AltersBilder
Gespräch im Haus im Park
AltersBilder mit Gitte Haenning
Eine Veranstaltung der Reihe „AltersBilder“
Gitte Haenning besucht das Haus im Park zu einem ganz persönlichen Gespräch mit NDR-Moderator Andreas Bormann. Gemeinsam schauen sie zurück auf 63 Jahre Bühnenkarriere: Ihre Laufbahn begann die Sängerin mit acht Jahren in Dänemark. Als gefeierter Teenie-Star eroberte sie Deutschland, besonders gern sah die Traumfabrik des deutschen Schlagers sie an der Seite von Rex Guildo. Doch Gitte emanzipierte sich immer mehr von den Belanglosigkeiten der Schlagerwelt und verkörperte in den 80ern mit frechen Popsongs ein modernes Frauenbild. Ihre Liebe zu anspruchsvoller Jazz- und Bluesmusik prägt ihr Gesamtwerk ebenso wie die Beschäftigung mit progressiver Zwölftonmusik. Ob das Sich-neu-Erfinden das Geheimnis ihrer Jugendlichkeit ist und wie sie sich aktuell für das fordernde Engagement als Musical-Darstellerin fit hält, fragt Andreas Bormann in der Reihe AltersBilder.
AltersBilder: Marie-Luise Marjan – 75, das ist doch nur eine Zahl
Seit 30 Jahren kennt Deutschland Marie-Luise Marjan als »Mutter Beimer«, die Kultfigur der Lindenstrasse, die eine Karriere vom Hausmütterchen zur Unternehmerin und aktuell zur weisen liebenden Oma vorweist. Andreas Bormann, NDR Info, spricht mit Marie-Luise Marjan über die vielen Facetten ihrer realen Rollen, ob als Autorin, Synchronsprecherin, Patin oder Stifterin.
Die Bundesverdienstkreuz-Trägerin kürt 2010 ihr über 25-jähriges soziales Engagement bei Plan International und Unicef mit einer eigenen Stiftung und der originellen Aktion »Ein Ei für Paraguay«. Wer wem ein Ei brät und warum sie auch mit 75 nicht müde wird, ihr Leben beruflicher und gesellschaftlicher Arbeit zu widmen, erklärt Marjan in der Reihe AltersBilder.
AltersBilder: Die öffentliche Frau
AltersBilder: Die revolutionäre Kraft des Alters
AltersBilder: Da geht noch was
AltersBilder: Ich steig aus und mach ’ne eigene Show
AltersBilder: Der Mann mit dem gelben Pullunder
AltersBilder: Licht aus – Spot an!
AltersBilder: Heiter weiter!
AltersBilder: Unvollständige Erinnerungen
AltersBilder: Süßer Vogel Jugend
AltersBilder: »Rock’n’Roll im Kopf, Walzer in den Beinen«
AltersBilder
Rückblicke 2015
Rückblick AltersBilder: Woraus wir leben
Andreas Bormann im Gespräch mit Gesine Schwan
16. April 2015
Anders als die meisten Gäste in der Gesprächsreihe »AltersBilder« hat Gesine Schwan, 71, gerade kein Buch über ihr Leben oder das Alter veröffentlicht. Ihr (Lebens-)Thema heißt Demokratie, nicht Demografie. Gelebte, lebendige Demokratie, wie Susanne Kutz, die neue Leiterin des Haus im Park, in ihrer Einführung hervorhebt. Bei diesem Thema sind Schwan und die Körber-Stiftung alte Bekannte, die sich seit Jahrzehnten immer wieder in Kooperationen und Veranstaltungen treffen. Die heutige Begegnung aber soll persönlicher sein: Wie blickt die Politikwissenschaftlerin, Professorin und ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina auf ihr bisheriges Leben? Wie erlebt die zweimalige Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten das Alter und das Altern?
Ein Engelchen als Geschenk
Moderator Andreas Bormann hält ein kleines Deko-Engelchen hoch, weißes Kleidchen, rechts und links einen Zopf am Kopf. »Irgendwas daran hat mich an Sie erinnert,« grinst er und blickt auf die Frisur. Gesine Schwan lacht, »aber ich habe doch auch Haare in der Mitte!« In der Tat, die hochgesteckten blonden Locken ringeln sich auf dem gesamten Kopf. Und auch für das Engelskleidchen gibt es kein Pendant: Schwan trägt einen schlichten brauen Pullover und einen grauen Blazer. Die nicht ganz enge graue Hose ist in die Stiefel gesteckt, was an frühere Reithosen erinnert. Doch das Engelchen hat Bormann nicht nur wegen diskutierbarer äußerlicher Ähnlichkeiten mitgebracht. Es steht auch für den christlichen Glauben, der für Schwan eine wichtige Rolle spielt.
»Wenn meinem Vater etwas nicht passte, hatte er vier Wochen Kopfschmerzen«
»Wie bibelfest sind Sie?« eröffnet er das Gespräch, den Engel noch in der Hand. »Gar nicht, ich bin katholisch.« Das Publikum lacht. Sie sei unkonventionell katholisch aufgewachsen. Die Mutter eine katholische Fürsorgerin, emotionaler, habe mehr Gläubigkeit vermittelt. Vom Vater, einem evangelischen Lehrer, habe sie »die Grundrationalität, die Argumentation.« Doch nicht nur das: »Mein Vater war ein schwieriger Mann. Wenn ihm etwas nicht passte, dann hatte er vier Wochen Kopfschmerzen.« Dadurch habe sie sich auf schwierige Männer orientiert.
»Ich empfehle: studiert, was Euch wirklich interessiert!«
Gesine Schwan stammt aus einer sozial und politisch engagierten Familie und wächst in Berlin auf. Die Eltern setzen sich nach dem Krieg für die Versöhnung mit Frankreich und Polen ein. »Warum gerade diese Länder?« möchte Bormann wissen. »Meine Mutter kam aus Oberschlesien, daher der Bezug zu Polen. Und sie haben die französische Kultur bewundert, sie wollten, dass wir lernten, dass das kein Erzfeind ist.« Das hat funktioniert. Beide Kinder machen das Abitur am Französischen Gymnasium. Die Tochter beginnt sogar ein Romanistikstudium. »Das habe ich aber abgebrochen, es war alles auf deutsch, das gefiel mir gar nicht!« Schließlich habe sie studiert, was sie wirklich interessierte: »Geschichte, Philosophie und Politik.« »Sehr luxuriös, so ein Neigungsstudium«, findet Bormann. »Ja, und ich empfehle das auch heute allen! Arbeitsmarktprognosen sind doch sehr kurzlebig.«
»Schon in der Familie hatte ich eine ausgleichende Rolle«
Wenn man ihre Vita ansieht, fallen die vielen Auszeichnungen ins Auge. Fast immer geht es dabei um Verständigung, Völkerverständigung, Versöhnung. Das Vermitteln und Ausgleichen kennt sie schon aus der Kindheit: »Ich war ziemlich lieb. Mein Bruder war mehr auf Konfrontation aus. Das ergab eine sehr lebendige Viererbande zu Hause.« Sie habe unter persönlichen Konflikten sehr gelitten und deswegen vermittelt. »Und meine Mutter war die letzten 30 Jahre manisch-depressiv, ich musste oft ausgleichen.«
»Ist Ihr Tun also auch eine Fortschreibung der Rolle in der Familie?« »Ich glaube schon. Auch das ganze Philosophieding kommt daher.« Ob sie im Alter mehr darüber nachdenke, wie ihre Familie sie geprägt hat, möchte Bormann wissen. »Es ist mir bewusster geworden. Mit Dankbarkeit.«
»Ich habe einen Standpunkt. Und den sage ich auch«
»Sie sind so eine Art politische Mediatorin«, meint Bormann. »Nein,« widerspricht Schwan, »eine Mediatorin hat keinen eigenen Standpunkt. Ich habe einen. Den sage ich auch.«
»Können Sie auch richtig wütend werden?« »Au ja!« und bei ihrem Tonfall glaubt man das sofort. »Es ist bei Ihnen also nicht immer alles so milde?« bohrt Bormann weiter. »Milde?!« Schwan ist erstaunt. »Nein, gar nicht. Es hilft in solchen Prozessen natürlich nicht, auszurasten, aber empören können Sie sich schon.«
Das kann sie auch hier an diesem Abend. Wie Deutschland mit den Griechen umspringt zur Zeit, findet sie »fürchterlich.« Das sagt sie mit Verve, wie sie überhaupt sehr lebendig wirkt in ihrem Sessel auf der Bühne. Sie kann sich auch aufregen, wenn gesagt wird, Deutschland gehe es gut. »Es geht Deutschland nicht gut. 80 Prozent der Menschen geht es gut, 20 Prozent geht es gar nicht gut.« Die müsse man auch sehen. Den grundlegenden Wert Solidarität sieht sie in Gefahr.
»Die harten Jahre haben meinen Blick für Menschen vertieft«
Als größte Zäsur ihres Lebens beschreibt Gesine Schwan die Krebskrankheit und den Tod ihres ersten Mannes, Alexander Schwan. Die Kinder waren 9 und 11 Jahre alt, als der Krebs diagnostiziert wurde. »Das war ein Cauchemar« (frz. für ‚Albtraum’, Anm. d. Red.).
»Waren Sie wütend auf Gott?« Schwan denkt nach. »Ich habe viel mit Gott gesprochen, im Wesentlichen habe ich ihn um Hilfe gebeten.«
Der Glaube allein hat ihr damals jedoch nicht aus der folgenden Depression herausgeholfen. Sie hat sich professionelle Hilfe gesucht, eine Psychoanalyse gemacht.
»Was haben Sie dabei gelernt?«
»Dass wir nichts für unsere Gefühle können, sie sind da. Aber wir können dann mit ihnen umgehen. Die Psychoanalyse hat mich von meinen Schuldgefühlen befreit, die ich u.a. hatte, weil ich mich ab einem bestimmten Punkt meinem Mann nicht mehr emotional nah fühlte.«
»Haben Sie von dieser Leidensphase profitiert?«
»Ja, sehr. Sie hat eine gewisse Strenge von mir genommen, ich habe seither einen tieferen Blick für Menschen, meine Erfahrensbreite hat es unendlich erweitert.«
»Es überwiegt die Dankbarkeit, nicht das Gefühl, alt zu sein«
Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie 14 Jahre ohne Partner. »Ich habe mir einen gewünscht, aber nicht mehr daran geglaubt.« Dann, mit 61, hat sie sich noch mal verliebt, in Peter Eigen, den Gründer der Antikorruptionsorganisation Transparency International. Die beiden sind noch immer ein Paar. »Ist es leichter mit der Liebe, wenn man älter ist?« fragt Bormann. »Es war und ist sehr leicht. Das war ganz ungewohnt für mich, weil ich mich doch auf schwierige Männer spezialisiert hatte«, lacht sie. Sie sei sehr dankbar für diese Beziehung, für die Zeit miteinander. »Wenn man jung ist, nimmt man die Dinge vielleicht für zu selbstverständlich.«
»Fühlen Sie sich alt?« »Ich bin gesund, kann denken, habe keine materiellen Sorgen, kann mich bewegen, habe keine Schmerzen, da überwiegt das Gefühl der Dankbarkeit, nicht, dass ich alt bin.«
»Ich bin keine ehrgeizige Frau«
»Warum wollten Sie Bundespräsidentin werden?« »Das erste Mal sollte ich kandidieren, und wenn der Bundeskanzler anruft, sagt man eher nicht nein. Das zweite Mal wollte ich.«
»Sie sind eine ehrgeizige Frau, wenn ich das so sagen darf.« Schwan widerspricht entschieden: »Nein, das dürfen Sie nicht, weil ich es nicht bin. ‚Ehrgeizig’ finde ich ein ekeliges Wort. Es bedeute, man ist auf Ehren aus.« Sie habe gereizt, wirken zu können in so einem Amt, dass das Gesagte Gewicht habe, wenn man so ein Amt bekleidet. Und das hat auch funktioniert, obwohl Andere Bundespräsidenten wurden. Sie ist durch die Kandidaturen sehr viel bekannter geworden. »Ich kann jetzt viel mehr machen als vorher.« Aktuell leitet sie die Humboldt-Viadrina Governance Platform, eine Nichtregierungsorganisation, die demokratische Prozesse und Verständigung fördert.
»Ich möchte unbedingt das weitermachen, was ich gerade tue«
Auf die Frage, was sie unbedingt noch tun wolle, will sie »das weitermachen, was ich jetzt tue. Daran arbeiten, dass wir in der Demokratie eine bessere Politik haben, mit jungen Menschen zusammenarbeiten. Und auch privat: Dass es meinem Mann und mir vergönnt ist, weiter gesund miteinander zu leben.«
»Und was hätten Sie gern getan?« »Reiten hätte ich gern gelernt,« sagt sie ohne lange nachzudenken und das überrascht ein bisschen, denn Gesine Schwan sieht aus, als könne sie das schon lange.
Rückblicke 2014
AltersBilder: Als wenn es gar nichts wär’
Andreas Bormann im Gespräch mit dem Sänger, Liedermacher und Schauspieler Klaus Hoffmann
8. September 2014
Lieber Klaus Hoffmann,
ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es ist mir leider nicht gelungen, den Witz und die Selbstironie, an denen ich während des Abends im Haus im Park der Körber Stiftung sehr viel Freude hatte, in den folgenden Text zu bringen. Sie waren zu schnell, zu schlagfertig, zu situationsbezogen, sprangen wild zwischen Themen, Liedern und Bezug zum Publikum hin und her und ich kann kein Steno. Sie und die Leser hätten es verdient, sich mit diesem Text ebenso königlich zu amüsieren wie ich an dem Abend. Seien Sie versichert, dass ich Ihre Antworten, die sich selten, ach eigentlich nie, um die Fragen von Herrn Bormann scherten, und die Lieder sehr genossen habe. Ich kannte Ihren Namen vorher nicht, einige Ihrer Lieder aber dann doch, wie ich im Laufe des Abends feststellen konnte. Ich bin froh, dass das jetzt anders ist.
Sie haben Andreas Bormann vorher gewarnt, Sie mäanderten durch Ihr Leben. Das kann ich nicht bestätigen. In den weit verzweigten Armen und Ärmchen eines Flusses fließt das Wasser meist ruhig dahin, es hat ja genug Platz. Dieses ruhige Tempo habe ich bei ihnen nicht beobachten können. Stattdessen schien mit das Ganze eher wie eine Ansammlung von Springbrunnen, Wasserbecken, kleinen Bächen und Stränden mit turbulentem Wellengang, mehr so etwas wie Alhambra meets Spaßbad und Nordseestrand.
In vielen dieser Becken haben Sie mich sehr berührt. Dabei habe ich, anders als der Großteil der Anwesenden an diesem Abend, nicht mal eigene biografische Verbindungen zu ihren Liedern.
Ich glaube, dass Sie die schmerzenden und die leuchtenden Stellen in anderen zum Klingen bringen, weil Sie Ihre eigenen Verletzungen und ihre Verletzlichkeit offen darlegen. Vielen Dank dafür!
Herzliche Grüße, Birte Petersen
Wie war noch mal die Frage?
Wie soll man diesen Mann, wie soll man diesen 18. Abend in der Reihe Altersbilder in einem zweidimensionalen Text wiedergeben? Texte sind Struktur, »Gewebe« etymologisch und haben Anfang, Ende, Bezüge, Linearität. Klaus Hoffmann aber beginnt Halbsätze, an die er andere Halbsätze hängt, die er unterbricht, um schlagfertig auf ein Geräusch aus dem Publikum zu reagieren, um sich an den Moderator wenden, um dann wieder zum Publikum zu sprechen. Er macht spontane, situationsbezogene Witze und horcht nach, ob die Zuhörer im voll besetzten Theatersaal des Haus im Park sie verstehen. Kommentiert, wenn sie dabei etwas langsam sind. Wie war noch mal die Frage? Egal. Viel gelacht.
Diesen Liedermacher, Sänger und Schauspieler nur in geschriebenen Worten wiederzugeben, hieße ihn auf ein Format zu stutzen, das seinen Humor, seine Feinfühligkeit, seine Wachheit, die Eitelkeit und den Narzissmus und die aus all dem resultierende Präsenz nur streifte. Hieße gerade, flache Linien zu ziehen, wo man das Relief seiner Landschaft herausarbeiten müsste wie eine Bildhauerin. Versuchen wir es trotzdem.
»Ich war der Junge, der sich selbst erzog«
Frau Hartmann, Mitglied des Projekts Hörbücherei im Haus im Park und wunderbare Vorleserin an diesem Abend, gestaltet den Einstieg und tut das Richtige, das einzig Mögliche: Sie fertigt eine Collage aus Passagen von Hoffmanns Autobiografie »Als wenn es gar nichts wär« und Zeilen seiner Lieder. »Ich habe die Rosinen rausgepickt, sie mit Liedtexten gemischt. Entstanden ist ein Kurzdrama in drei Akten.« Vom Jungen, der sich selbst erzog, ist da die Rede, von den »Frauen seines Lebens« und dass Klaus Hoffmann lange gebraucht habe, um seine Lieder zu verstehen. Dieses trägt sie so ausdrucksvoll vor, dass er sie nach dem kurzen Vortrag gerührt umarmt.
Den Vater verliert er mit 10, zur Beerdigung wird er nicht mitgenommen
Weil zwei Namen, die auf -mann enden, sperrig sind im Gespräch, hatten Bormann und Hoffmann sich vorher auf das ‚hanseatische Du’ geeinigt: Vorname und siezen. Sie werden es nicht durchhalten. »Hallo Klaus!« – »Hallo Andreas!« aber beginnt das Gespräch. Wieso er sich in seiner Autobiografie so detailliert erinnern könne, möchte Bormann wissen. Hoffmann ist 63, da kommt einiges zusammen an Erinnerungen, wie schafft er es, die Namen von Grundschulkameraden noch präsent zu haben? »Ich glaube, es ist ein bloßes Festhalten«, sagt Hoffmann und erklärt noch ein bisschen was, das man nicht versteht, eine Schattenmorelle kommt darin vor und der Tod des Vaters als Hoffmann zehn Jahre alt ist, und dass man ihn nicht mitgenommen habe zur Beerdigung. Es sollte ihn schützen, nahm ihm aber vor allem das Ritual des Abschieds. Das ist traurig und interessant, hat wenig mit Bormanns Frage zu tun, doch das macht nichts. Gute Fragen öffnen Räume und schauen, was drin ist. Dann greift Hoffmann zur Gitarre, das Licht im Zuschauerraum erlischt, er sitzt im Spot auf der Bühne, blonder Schopf, grauer Anzug, weißes Hemd, die hellbraunen Schnürschuhe in der gleichen Farbe wie die akustische Gitarre. Er singt »Man vergisst nichts« und da ist die Antwort. Das Publikum schwelgt mit und applaudiert begeistert, obwohl es nur eine Strophe bekommt.
Die Lücke, die der Vater hinterließ, hat er mit sich selbst gefüllt
»Was waren Sie für ein Junge?«
»Ich hatte dicke Oberschenkel.«
»Männer werden im Alter schöner«, frotzelt Bormann.
»Das kann man in diesem Fall besonders unterstreichen.«
Seine Helden seien Stan und Olli gewesen und er eine Heulsuse. Der Vater habe in den 50er Jahren gewagt, zu weinen, während die Mutter eher die preußische Parole ‚Jungen weinen nicht’ ausgegeben habe.
»Die Danksagung am Ende ihres Buches lautet ‚Für meinen Vater, ohne den es nicht gegangen wäre’. Wie geht das, wenn der Vater stirbt, wenn man zehn ist?«
»Ich habe seine Lücke mit mir selbst gefüllt.«
»Das klingt nach Einzelgänger.«
»Total! Wo nichts ist, musst du es dir selbst bauen.« Spricht’s und greift wieder zur Gitarre, diesmal für den »König der Kinder.« Das Publikum kennt alle Lieder, summt leise mit und freut sich.
»Ich flog aus jedem Marx-Kreis«
»Sie waren jung im Berlin der 70er Jahre. Wie haben Sie versucht, auszubrechen?«
»Ich habe mich angepasst. Ich war ja Kaufmann bei Klöckner Eisenhandel und ich war gut! Meine Rebellion war, dass ich aus jedem Marx-Kreis flog, ich liebte Rimbeau…«
»Die Anderen demonstrierten gegen Vietnam und du zogst mit der Gitarre um die Häuser und warst romantisch??«
»Romantisch?? Ich sang Francois Villon!«
»Mit 42 Kilo sah ich aus wie eine Mischung aus Heidi Klum und Klaus Kinski«
Mit flotten, oft lustigen Wortwechseln, die man nicht so schnell mitschreiben kann, hopsen Bormann und Hoffmann durch die Abschnitten von Hoffmanns Leben. Das Theater. Der Film. Afghanistan. (»Als ich zurückkam hatte ich mein bestes Gewicht: 42 Kilo. Ich sah aus wie eine Mischung aus Heidi Klum und Klaus Kinski«). Die Zen-Phase. Im Gedächtnis bleibt vor allem, dass Hoffmann wahnsinnig gut besoffen sprechen spielen kann (ein Rollenangebot kam per Telefon von einem offensichtlich stark Betrunkenen, das spielt er vor), und dass er sein schauspielerisches Potenzial und die Freude, die ihm das macht, auch als Sänger auf der Bühne auslebt.
»Unsicherheit ist auch ein Motor, ist ganz gut, wenn Du unsicher bist«
»Hast Du noch Lampenfieber?«
»Ja, aber wie.«
»Warum hat Klaus Hoffmann so viele Zweifel? Warum hat er kein Grundvertrauen?«
»Das könnte ich Dir jetzt analysieren. Aber das reicht mir nicht. Ist ja auch ein Motor. Ist ganz gut, wenn Du unsicher wirst.«
»Mein Gott, ich wird’ 60, das war eine Überraschung«
»Wirst Du spiritueller im Alter?«
»Wenn das bedeutet, sehr viel zu lachen, dann ja.« Er sieht Lebendigkeit als Spiritualität. Das glaubt man sofort. Dann streicht Andreas Bormann nur einmal kurz über die Saiten der Gitarre und gibt damit das Zeichen für das nächste Lied. »War’s das?«.
Seinen sechzigsten Geburtstag vor drei Jahren hat er groß mit Wegbegleitern unter dem Titel, »Mein Gott, ich wird’ 60« im Berliner Friedrichsstadtpalast gefeiert. »War das eine Klage?« möchte Bormann wissen.
»Nein, eher ein Ausruf der Überraschung. Ich bin älter geworden als mein Vater. Wie viel wohl noch geht?«
»Meine Frau Malene hat meine Wunden geschlossen«
Schließlich die Frage nach seiner Frau. »Malene hat meine Wunden geschlossen«, sagt er. Dann ist ihm der Ausdruck aber doch zu ehrlich oder zu pathetisch oder beides. »Ich rotz das jetzt mal so weg. Das ist ja kaum zu ertragen, ‚Wunden geschlossen’. Wir haben wohl ähnliche Verletzungen.«
Ist es das, was Klaus Hoffmann so besonders macht? Dass er sich nicht scheut, solche Dinge zu sagen? Dass er wenig Angst hat vor Pathos, möglicherweise auch mal an der Grenze zu Kitsch entlangschrammt, sich jedoch vor allem traut, die eigenen Verwundungen und weichen Stellen zu zeigen und gleichzeitig das Unwohlsein spürbar macht, das damit einhergeht, sich so auszustellen?
Er verliert sich kurz in Gedanken »Älter werden als Paar ist auch so eine Geschichte.« Aus dem Publikum kommt ein zustimmendes ‚Au Mann’. Gelächter. Aber erzählt wird diese Geschichte nicht. Wie so viele, die an diesem Abend anklingen. Stattdessen gibt es die ‚Blinde Katharina’ zum Abschluss und tosenden Applaus, begeisterte Pfiffe und sogar einzelne standing ovations.
Altersbilder: Da geht noch was – mit 65 in die Kurve
21. Mai 2014
»Hallo«. Ein einfaches, freundliches, zugewandtes, völlig ungekünzeltes »Hallo« ist das erste, was Christine Westermann auf der Bühne sagt. In sportlicher weißer Hose, hellen Stiefeln und hellgrauem, langem Shirt richtet die Journalistin und Buch-Autorin ein unkompliziertes »Hallo« ans Publikum. An sich nichts Besonderes so ein ‚Hallo’, möchte man meinen, aber ihres setzt den Ton für den Abend. Ist es ihre sehr spezielle Stimme, die immer ein wenig so klingt, als ob sie gleich bricht und damit einem den Eindruck von Intimität vermittelt? Oder scheint sie einem vertraut, weil man sie oft in der WDR-Sendung ‚Zimmer frei’ gesehen hat, die sie seit 1996 mit Götz Alsmann moderiert?
Doch bevor das zu erforschen ist, liest Frau von Ehrlich, Mitglied des Projekts Hörbucherei im Haus im Park, Passagen aus dem neuen Buch von Christine Westermann »Da geht noch was. Mit 65 in die Kurve«. Sie trägt Teile der Einleitung vor, Gedanken über das Glück, Anmerkungen zum Schreib- und Rechercheprozess. »Man kann dem Glück nicht nachstellen, mit Worten schon gar nicht.« Aha. Das Schreiben sei auch »eine emotionale Reise« gewesen. Nun ja. Sie lassen nicht erwarten, dass der Abend so unterhaltsam werden wird. Die 270 Menschen, die trotz des hinreißenden Hamburger Sommerwetters in den Theatersaal des Haus im Park gekommen waren, hatten einiges zu lachen.
»Meditieren? Nur auf einem Stuhl!«
»Fragen Sie lieber oder antworten Sie lieber?« möchte Bormann zu Beginn von seiner Journalistenkollegin wissen. Eine genaue Antwort bleibt aus, weil sich beide gleich in einem höchst unterhaltsamem Geplänkel verirren, in dessen Verlauf das Publikum lernt: Frau Westermann meditiert, aber nicht zuhause, sondern nur bei ihren Achtsamkeitstrainings. Das macht sie auf einem Stuhl, denn auf einem Meditationskissen kann sie nicht sitzen. Herr Bormann hingegen beherrscht den perfekten Schneidersitz, selbst auf einem runden schwarzen Meditationskissen auf der Bühne. Und wer hier die Fragen stellt, ist nicht eindeutig.
Das Meditationskissen hatte Andreas Bormann seinem Gast mitgebracht. Ein kleines Geschenk, das direkt ins Leben des Gesprächspartners führt, ist inzwischen fast Tradition in der Gesprächsreihe Altersbilder. Dieses ist ein Reinfall, einerseits. Andererseits führt das Gespräch eben zu jener Achtsamkeitspraxis, damit auch zu den Einsichten und Gedanken, die Christine Westermann mit 65 Jahren umtreiben.
»Sie sind eine Freundin von Reformhaussprüchen«
»Sie haben ein mutiges Buch geschrieben«, lobt Bormann. »Man erlebt Ihre Häutungen mit. Aber sie sind auch eine Freundin von Reformhaussprüchen, z.B. ‚Kein Mut ohne Angst’. Erklären Sie mir das.« Westermann scheint ihm die ‚Reformhaussprüche’ nicht krumm zu nehmen und nennt ein Beispiel: Vor der Moderation des Grimme-Preises sei sie sehr aufgeregt gewesen. Dann habe ihr jemand gesagt: ‚nimm die Angst an die Hand. Nimm sie mit raus auf die Bühne’. »Die Angst ist ja sowieso da und es kostet viel mehr Energie, sie zu verdrängen.«
»Ich habe mich von Anfang an beschützt und geführt gefühlt.«
»Sie sind eine Selbstzweiflerin« konstatiert Bormann. »Ja. Das Muster ‚ich bin nicht gut genug und irgendwann werden sie mir draufkommen’, ist ja weit verbreitet. Es hilft, das zu wissen und sich selbst immer wieder dabei zu erwischen.« Gleichzeitig sei sie ein Mensch mit großem Gottvertrauen. »Ich habe mich von Anfang an beschützt und geführt gefühlt.«
«Mit achtzig Leuten schweigend zu essen ist sehr unangenehm«
Apropos Gott: »Bei einem Schweige-Aufenthalt im Kloster haben Sie sich filmen lassen – ist das nicht irgendwie schräg?« will Bormann wissen. »Dass es schräg war, habe ich gemerkt, als ich dabei war. Es war nicht meine Idee, die Redaktion von Kirche & Leben rief an. Und ich dachte: wenn Kirche & Leben anruft, musst du das machen.« Westermann lacht und blickt nach oben, um den möglicherweise göttlichen Auftrag zu verdeutlichen. »Und wie war’s?« »Es war eine wirklich unangenehme Erfahrung mit achtzig Leuten schweigend zu essen. Ich habe zwei Kilo abgenommen in dieser Woche, weil ich nicht sagen konnte ‚können Sie mir mal eine Scheibe Brot geben. Man musste drauf zeigen und das fand ich unangenehm.«
»Inzwischen begegne ich Menschen unvoreingenommen«
Doch sie habe auch eine sehr schöne Erfahrung gemacht, fast eine kleine Erleuchtung gehabt: »Am Ende sollte ich jemanden interviewen, Roland. Zu diesem Namen hatte ich sofort ein Bild: farblos, alleinstehend, trinkt Früchtetee, hat eine große Bücherwand. Als ich meine erste Frage stelle, kommt heraus: er heißt gar nicht Roland, sondern Thomas. Und ist Leiter eines großen Unternehmens, verheiratet, hat drei Kinder… Da habe ich gemerkt, wie schnell ich Leute in Schubladen stecke, wie schwer ich es mir mache. Inzwischen komme ich Menschen unvoreingenommen entgegen. Wie anders ich jetzt durch’s Leben gehe!« Dazu trägt sicher auch das Achtsamkeitstraining bei. Eine drei Jahre dauernde Fortbildung besucht Christine Westermann, sieben Seminare im Jahr, am Ende darf sie selbst Achtsamkeit lehren. »Das will ich gar nicht. Ich mache das für mich. Ich will gucken, wer ich bin, wenn ich fertig bin.«
»Ich hab’ gelernt, nicht mehr so viel zu denken«
»Was haben Sie dadurch gelernt?« »Nicht mehr so viel zu denken, weil ich gemerkt habe, was für ein Irrsinn das ist. Und jetzt zu leben. Nicht warten!« »Hätten Sie das auch schon mit 42 gekonnt?« »Natürlich nicht.« Viele übersetzen ‚jetzt leben’ mit Job hinwerfen, Weltreise, Aussteigen. Und Frau Westermann? »Hatten Sie jemals Ausstiegsfantasien?« möchte Andreas Bormann wissen. »Nie! Ich liebe meinen Beruf. Ich bin auf der Höhe meines Schaffens, es fällt mir inzwischen leicht, ich bin schneller, aber ich bin immer noch sehr genau, das ist die Plasberg-Schule.« (Westermann hat lange mit dem Journalisten Frank Plasberg zusammenarbeitet, Anm. d. Red.). Als freie Journalistin gilt für sie ohnehin kein staatlich oder betrieblich verordnetes Rentenalter.
»Man kann nicht nur von Gipfel zu Gipfel hüpfen, Täler gehören dazu«
»Hat Älterwerden mit Angst zu tun?« »Ja, mit der Angst, nicht mehr genug leben zu können, jetzt da ich begriffen habe, dass man nicht nur von Gipfel zu Gipfel hüpfen kann, dass die Täler dazu gehören.« »Welche Täler mussten Sie denn durchschreiten?« »Der Anfang von ‚Zimmer frei’ war so ein Tal. Man muss Götz Alsmann begreifen, um ihn lieben zu können.« Sie habe erst lernen müssen, dass er es nicht persönlich meine, wenn er um der Pointe willen noch mal nachtrete. Inzwischen haben die beiden zusammen den Grimme-Preis gewonnen.
»Ich selbst sein geht immer besser«
»Wann haben Sie das erste Mal festgestellt, ich werde älter?« »Mit 42, die Männer flirteten nicht mehr so zurück und ich entdeckte Dellen am Oberschenkel.« »Und im Kopf?« »Im Kopf ist das anders, da wird es eher besser: gelassener, ruhiger.« »Wenn Sie mit 42 festgestellt haben, sie werden körperlich älter, ist es nicht sehr tapfer von Ihnen, sich immer noch vor die Kamera zu stellen?« »Ja, das finde ich auch!» Das Publikum lacht. »Was kriegen Sie für Ihre Tapferkeit?« »Anerkennung von den Zuschauern. ‚Sie sind wahrhaftig’ sagen sie. Dafür muss ich ja nur ich sein. Das geht immer besser. Je älter ich werde, umso wahrhaftiger, klarer werde ich.« Das glaubt man sofort, wenn man Christine Westermann erlebt.
»’Zimmer frei’ mache ich noch bis 2016, auch wenn ich schwer hochkomme manchmal«
»Aber man wollte sie mal loswerden als Moderatorin, 2012«, spricht Bormann die Schwierigkeiten an, im Fernsehen älter zu werden. Gelungen ist es nicht, denn es hätte das Ende von ‚Zimmer frei’ bedeutet. »Ich sollte auf einer Pressekonferenz die üblichen Sätze sagen, so was wie ‚mit einem lachenden und weinenden Auge, gern jetzt ruhiger machen’, das konnte ich nicht. Ich konnte nicht gegen alles, was ich fühlte, sprechen.« ‚Zimmer frei’ soll jetzt mindestens noch bis zum 20jährigen Jubiläum 2016 mit Westermann und Alsmann laufen. »Auch wenn ich bei manchen Spielen nur noch langsam hochkomme«, sagt Westermann schmunzelnd.
»Ich wollte nie heiraten«
»Glauben Sie an Fügung?« »Ja.« Ihren jetzigen Mann hat Christine Westermann einst im Zug kennengelernt. Aber erst 18 Jahres später trafen sie sich wieder und wurden ein Paar. Inzwischen sind sie seit 14 Jahren verheiratet. »Haben Sie mit Anfang 50 geheiratet, weil beide älter wurden?« »Vielleicht auch ein bisschen. Ich wollte nie heiraten, weil ich die drei gescheiterten Ehen meiner Mutter mitgekriegt habe. Deswegen war für mich klar: wenn du heiratest, dann nur ‚bis dass der Tod Euch scheidet’. 1,75 Prozent Torschlusspanik war vielleicht auch dabei. Jochen ist ein toller, gut aussehender Mann…«
»Auch mit 65 hat man nicht alles begriffen (und keine Messerbänkchen)«
Gibt es einen Hätte-Schmerz? »Nein, no regrets, kein Bedauern.« »Wollten sei nie Klavier spielen?» »Ach, so was meinen Sie… wissen Sie, was ich gerade mache? Ich nehme Gesangsunterricht. Das denkt man nicht, nach meinem Gesang in Zimmer frei, nicht wahr?!« Selbstironie kann sie gut. Sie beruhigt das Publikum: »Keine Sorge, bei ‚Zimmer frei’ werde ich weiter falsch singen. Aber ich habe den Eindruck, Gesang ist ein Extraweg zu meinem Herzen.« Man wundert sich ein bisschen, denn Christine Westermanns Herz wirkt alles andere als verschlossen, das ist ein großer Teil ihres Charmes. Aber sicher ist es gut, viele Wege dorthin zu haben. Was man hingegen auch mit 65 nicht braucht, sind Messerbänkchen, sagt Frau Westermann. »Ich hab immer gedacht, mit 65 hat man Messerbänkchen und alles begriffen. Hat man nicht. Auch ne schöne Erkenntnis.«
Altersbilder – Frau Christine Westermann
Neugierig geworden durch ihr Buch mit dem Titel „Da geht noch was – mit 65 in die Kurve“, lud das Haus im Park Frau Westermann, bekannt als Radio- und Fernsehjournalistin, besonders durch die Kultsendung „Zimmer frei“ zu einem Interview, wie immer mit dem Moderator Herr Andreas Bormann, am 21.05.2014 ein. Lebhaft und schnell beginnt Frau Westerman sogleich zu erzählen. Selbst Herrn Bormann stellt sie in ihrem Eifer Fragen, so dass er höflich ihren Redeschwall unterbricht und fragt:“ Wer ist hier eigentlich der Moderator?“ Wir erfahren, dass das sichtbare Älterwerden sie dazu bewegt hat dieses Buch, ein sehr persönliches, zu schreiben. „Ich bin jetzt 65 Jahre, .spätestens dann, sollte man darüber nachdenken: Wo will ich noch hin mit meinem Leben, wo will das Leben mit mir noch hin? Dann sagt Frau Westermann noch den schönen Satz: „Glück sind die Summen aller Augenblicke, die man genossen hat.“ Herr Bormann weiß, dass Frau Westermann meditiert und zaubert als Geschenk ein Kissen zum Meditieren hervor. Die Begeisterung hielt sich von Frau Westermann in Grenzen. Ihr Kommentar:“Ich sitze beim Meditieren auf einem Stuhl, für das Kissen bin ich zu alt.“ Daraufhin zeigtHerr Bormann ihr, wie man mit dem Kissen locker auf der Erde sitzen kann. Ich finde, bequem sieht das nicht aus. Gefragt nach dem Älterwerden antwortet Frau Westermann:“ Ich war 42 Jahre als ich merkte, dass ich nicht mehr so gut flirten konnte. Außerdem fiel mir auf, dass ich morgens müde aussah und Dellen in den Oberschenkeln habe. Die positive Seite ist, dass man im Kopf gelassener wird und einem es leichter fällt vieles zu akzeptieren. Begriffen habe ich außerdem, dass man durch die mageren Jahre besser durchkommt.“ Herr Bormann bemerkt, dass Frau Westermann ein mutiges Buch geschrieben hat. Die Antwort kam prompt: „Kein Mut, ohne Angst: “Nimm einfach die Angst an die Hand, als sie zu unterdrücken. Hat man Mut, hat man auch Angst. Die Frage von Herrn Bormann, ob sie tapfer sei weil sie in ihrem Alter noch vor der Kamera steht, beantwortet Frau Westermann wie folgt:“ Ich bin tapfer, ich bekomme Anerkennung von den Zuschauern. Ich verstelle mich nicht. Ich bin so wie ich bin. Sie wollten mich mal los werden, ich bin ja freie Journalistin. Ich bin dann zum Unterhaltungschef selbst gegangen und habe das geklärt. Ich mache das so lange wie ich noch beweglich bin. Ich möchte selbst bestimmen, wann ich aufhöre. Ich will das 20 jährige Jubiläum im Jahre 2016 mit Götz zusammen noch mitnehmen. Ich bin die älteste Moderatorin im Fernsehen. Schlimm finde ich es, dass die Jungen gegen die Alten konkurrieren. Geheiratet habe ich spät. Flüchtig kennen gelernt habe ich meinen Mann im Zug. 18 Jahre später habe ich ihn dann wieder getroffen und nicht erkannt. Aber dann hat es gefunkt. Er ist wesentlich jünger als ich. Aber es gleicht sich aus, Jochen sieht älter aus und ich jünger Er ist ein toller Mensch.. Ich habe ihm einen Heiratsantrag gemacht, da ich mir ganz sicher war, dass ich mit ihm alt werden will bis das der Tod uns scheidet.“ Haben Sie vor irgendetwas Angst?“ fragt Herr Borman. „Ja, vor Krankheiten“ kam die Antwort sofort. „“Mein Körper ist mein Freund. Ich mute ihm viel zu. Ich bedanke mich immer bei ihm. Ich bin gesund, dafür bin ich dankbar. Ich habe gemerkt, da geht noch was und deshalb nehme ich jetzt Gesangunterricht. Ich werde allerdings in „Zimmerfrei“ weiterhin falsch singen. Wir üben vor dem Spiegel, aber das bringt nicht viel.“ Was halten Sie von dem Spruch „Männer werden reifer, Frauen werden älter“ fragt Herr Bormann. „So ein Schwachsinn, da stehe ich überhaupt nicht drauf, „ ist die Antwort von Frau Westermann. Zum Abschluss empfiehlt Herr Borman noch einmal Frau Westermann doch das Kissen beim Meditieren zu benutzen und es mit nach Hause zu nehmen, sonst wäre er ihr böse. Ich bin mir sicher, das Kissen wird nie benutzt.
Annelies Steinbeck
AltersBilder: Licht aus – Spot an!
AltersBilder: Nachrichtenzeit
AltersBilder: Unvollständige Erinnerungen
AltersBilder: Süßer Vogel Jugend
AltersBilder: »Rock’n’Roll im Kopf, Walzer in den Beinen«
„Wer nach vorne schaut, bleibt länger jung“
Henning Scherf, ehemaliger Bremer Bürgermeister, über seine Haus-WG, seine Neugierde auf das Älterwerden und warum er beim SV Werder lieber in der Ostkurve statt in der VIP-Lounge sitzt.
Das hat es in der Gesprächsreihe „Altersbilder“ im Haus im Park noch nicht gegeben: Der heutige Gast, Bremens ehemaliger Bürgermeister Henning Scherf, 74, begrüßt das Publikum persönlich – und zwar jeden Einzelnen. Er geht die Reihen des vollbesetzten Theatersaales entlang, schüttelt Hände, wechselt hier ein paar Worte, nimmt dort jemanden in den Arm. Bei etwa vierhundert Menschen dauert das, doch das Publikum wartet gut gelaunt. Scherf, dem der Ruf vorauseilt, ein leidenschaftlicher Umarmer zu sein, ist in seinem Element: freundlich, unverkrampft, zugänglich, direkt im Kontakt. „Gemeinschaft“ ist ein wichtiger Begriff für ihn, von dem hier noch zu lesen sein wird. Er schafft sie aktiv. Das wird er am Ende des Abends, das eine weitere Premiere in dieser Gesprächsreihe bereithält, noch einmal tun. Doch davon später.
Erst einmal stehen zwei sehr hoch gewachsene, schlanke Männer auf der Bühne und tauschen Daten und Fakten: „Wie groß sind Sie eigentlich genau?“ will der geringfügig kleinere Moderator Andreas Bormann wissen. „2,04 Meter steht in meinem Pass, aber ich glaube, die halte ich nicht mehr.“ „Doch, kann gut sein“, sagt Bormann, „ich bin 2,02 Meter.“ Danach falten sich beide in die Sessel.
Beim SV-Werder in der Ostkurve
Scherf ist nicht nur für seine Körpergröße bekannt, sondern auch für seine umgängliche und volksnahe Art. Sie hat es ihm erlaubt, auch mit (politischen) Gegnern gut auszukommen. Oder die die Heimspiele des SV Werder nicht in der VIP-Lounge, sondern in der Ostkurve zwischen den Fans zu verfolgen. „Auch am kommenden Samstag gegen Nürnberg?“ „Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe.“ „Ich glaube, Sie gehen“, sagt Bormann bestimmt und zieht sein Mitbringsel für Scherf aus der Jackentasche: Eine Pudelmütze des Hamburger SV. Publikum und Scherf lachen laut. Er probiert die Mütze gleich mal auf. Passt. „Sie könnten damit sogar im Werder-Fanblock sitzen, ohne, dass Ihnen etwas passiert, oder?“, mutmaßt Bormann. „Ob ich mich das traue?“, zweifelt Scherf. Mit Uwe Seeler und Klaus Lembke sei er gut befreundet – aber deswegen gleich eine HSV-Mütze beim Werder-Spiel tragen?
„Den Krieg haben wir nur überlebt, weil wir zusammenhielten“
„Woher können Sie so gut mit Menschen?“ „Ich hab das gelernt.“ Als Kind habe er gestottert. Erst Sprechunterricht und vor allem ein Schulwechsel hätten geholfen. „In der neuen Schule bin ich aufgeblüht, war in Nullkommanichts Schulsprecher und hab’ Reden gehalten vor der ganzen Schule.“ Auch die Familie mit fünf Geschwistern sei prägend gewesen. „Ich hab’ den Eindruck, wir haben nur durchgehalten, weil wir zusammengehalten haben. Ich bin ja unter extremen Bedingungen aufgewachsen, im Krieg, in den Nachkriegsjahren.
Die Welt mit Kinderaugen sehen
Bormann zitiert einen Satz aus Scherfs neuem Buch „Wer fünfzig Prozent in der Vergangenheit lebt, ist alt, wer fünfzig Prozent in der Zukunft lebt, ist jung.“ (Klaus Dörner) „Wird die Zukunft nicht kürzer, wenn man älter wird?“ „Ich habe das Gefühl, ich hab noch ein ordentliches Stück des Weges. Ich will meine Enkelkinder aufwachsen sehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche, mir ihre lange Lebensperspektive anzueignen.“ „Geht das?“ „Manchmal. Man kann die Welt mit Kinderaugen sehen.“ „Bekommt die Vergangenheit im Alter mehr Bedeutung?“ „Kommt drauf an. Ich kriege jetzt manches wieder, was ich glaubte, vergessen zu haben. Meine Kriegserinnerungen kommen hoch. Ich habe KZ-Häftlinge erlebt, die in Bremen gefährliche Trümmer wegräumen mussten. Sie kamen mir vor wie Geister. Oder Bilder von toten Kindern.“ „Beunruhigt Sie das?“ „Nein, überhaupt nicht. Das ist ein Reichtum.“
Neugierig auf das Alter
Angst vor Älterwerden habe er nicht: „Ich bin sogar neugierig, beobachte meinen Körper. Wir Langen, wir müssen ja aufpassen, dass wir nicht krumm werden…“ „Wann haben Sie gespürt, dass Sie alt werden?“ „Manchmal denke ich, ich hab’s noch gar nicht gemerkt.“ Doch das Marathonlaufen hat er ebenso dran gegeben wie sein Paddelboot. Aber beim Hamburger Radrennen Cyclassics fährt er noch mit und Hochseesegeln gehe auch noch. „Mir ist das, was gelingt, so kostbar, dass ich über das, was nicht mehr geht, nicht jammern mag.“ „Und wie geht’s dem Kopf?“ „Dem geht es gut, seit ich heißes Wasser trinke“, sagt er und grinst verschmitzt.
Das große Los: Die Haus-WG
Henning Scherf ist in der öffentlichen Wahrnehmung so etwas wie ein Experte für alternative Wohnformen im Alter. Das liegt daran, dass er seit langem mit Frau und Freunden in einer Haus-WG wohnt. „Wann haben Sie und Ihre Frau beschlossen: Wir wollen nicht allein wohnen?“ „Mit Mitte vierzig, die Kinder waren aus dem Haus. Wir wollten eine Form suchen, die wir leben können, bis wir tot sind.“ „Viele in Ihrem Alter sagen ‚Oh Gott, WG kann ich nicht ertragen.“ „Die haben Studenten-WGs vor Augen, die ja eigentlich Notgemeinschaften sind, mit nur einem Bad und einer Küche. Da sind Konflikte programmiert. Wir haben ausreichend Rückzugsmöglichkeiten eingebaut. Ich hab’ das große Los gezogen.“
„Sterben will ich mit viel Licht und mittendrin“
Der Tod ist in dieser Alten-WG gegenwärtig. „Zwei WG-Mitglieder sind bei uns zu Hause gestorben. Wir haben sie gepflegt, begleitet. Den Umgang mit Schmerzen, Palliativmedizin, Pflege: Haben wir alles gelernt durch die Sterbenden in unserem Haus.“ „Haben Sie dazu Rituale?“ „Wir haben mit den Sterbenden alles bis ins letzte Detail besprochen, die Aufbahrung, wer den Sarg trägt, die Reden. So ein Gerüst hilft, mit dem Verlust umzugehen. Im Haus haben wir viele Ecken, die an sie erinnern. Wir wollen das nicht verdrängen, dass uns das auch erwartet.“ „Wie wollen Sie sterben?“ „In unserem Haus und mittendrin. Ich wehre mich gegen Verdunkelung, Kerzen und Adagios. Ich will Licht und große klassische Musik. Die Kinder sollen dabei sein, kleine Kinder gehen damit ganz selbstverständlich um, das ist segensreich.“ „Ein Hospiz kommt für Sie nicht in Frage?“ „Wir sind ein Hospiz!“ „Was raten Sie Alten, die nicht allein leben wollen?“ „Wenn Sie ein großes Haus haben: Laden Sie Leute ein, bei Ihnen zu wohnen! Sie werden sich wundern, wie viel spannender, anregender, besser Ihr Leben wird!“ Und wenn man kein Haus hat? Scherf verweist auf die große, lebendige Wohnprojektszene in Hamburg. „Gucken Sie sich um, machen Sie sich schlau, überlegen Sie, wie Sie leben wollen!“
Die zweite Premiere des Abends: Dona nobis pacem aus vierhundert Kehlen
In einem Zeitungsinterview hatte Scherf angekündigt, er könne sich vorstellen, mit dem Bergedorfer Publikum gemeinsam zu singen. Während sich Andreas Bormann schnell von der Bühne schleicht („Ich bin total unmusikalisch“), geht Scherf an den Bühnenrand. Als täte er seit jeher nichts anderes, teilt er das Publikum in drei Gruppen für einen Kanon und singt mit tiefer, tragender Stimme vor. Dann dirigiert er die ganze Gemeinschaft. Es ist der zwölfte Abend in der Gesprächsreihe ‚Altersbilder‘. Es ist der zwölfte Monat des Jahres, kurz vor Weihnachten. Und durch den Theatersaal des Haus im Park tönt ein vielstimmiges und sehr gemeinschaftliches ‚Dona nobis pacem‘.
AltersBilder: Nachrichtenzeit
Wibke Bruhns im Gespräch mit Andreas Bormann
25.09.2012
Andreas Bormann hat es nicht leicht an diesem Abend. Wibke Bruhns ist eine sehr wache und eloquente Gesprächspartnerin und in ihren genauen, überraschenden Antworten oft sehr lustig. Aber sie ist nicht gefällig. Sie antwortet nicht das, was man erwartet oder die Frageformulierung nahe legt, sie schweigt, wenn sie nicht mehr sagen will, sie hilft ihm nicht aus. Sie lässt Bormann kommen. Das wirkt irritierend selbstbewusst und man schämt sich, das so zu schreiben, weil es ja mehr über das eigene Frauenbild aussagt als über Wibke Bruhns. Warum sollte sie nicht selbstbewusst sein? Sie hat allen Grund.
Die schlanke 74jährige, die Bormann braungebrannt, mit kurzen blonden Haaren, in schwarzer Hose, schwarzem Blazer und hochhackigen Stiefeletten gegenüber sitzt, Journalistin ihr ganzes Leben, ist natürlich auch ein Interview-Profi.
»Ich war wild entschlossen, den Kollegen den Job wegzunehmen«
Einen ersten Einblick in die Stationen ihres Berufslebens gibt Frau Hartmann aus der Hörbücherei im Park. Sie trägt zu Beginn des Abends Passagen aus Bruhns’ neuem Buch »Nachrichtenzeit. Meine unvollständigen Erinnerungen« vor. Die zeigen, wie sich das Bruhnsche Leben mit der Geschichte der Bundesrepublik verzahnt. Gleichzeitig scheinen drei Eigenschaften durch, die auch an diesem Abend auf der Bühne immer wieder sichtbar werden: Wibke Bruhns ist selbstbewusst, politisch und streitbar. Das Volontariat bei der Bild-Zeitung, eine »fundierte Ausbildung«, bricht sie ab. »Ich kündigte mit dem Mauerbau. Hitlers Machtergreifung mit der Politik der DDR gleichzusetzen, hielt ich für unzulässig.« Sie überzeugt Stern-Chef Henri Nannen, für sie einen Korrespondentenposten im Nahen Osten zu schaffen und lässt sich in den Vertrag gleich die nächste Station »Büroleitung Washington« hineinschreiben. »Ich wild entschlossen, das den Kollegen wegzunehmen und das ist mir auch gelungen.« Da ist es wieder, das »irritierende« Selbstbewusstsein und diesmal kann man es gut verorten: So klare und kämpferische Aussagen zu beruflicher Konkurrenz hört man von Frauen selten. Selbst heutzutage.
»Der Kaiserstuhl fiel aus: zu viele Geranien«
Hartmann liest Jahreszahlen und Stationen, Hamburg, Jerusalem, Washington, Elsass. Elsass? »Seit meiner Zeit in Jerusalem wusste ich: Licht lässt mich leben.« Nach der Rückkehr aus Washington stellte sich also die Frage »Wo in Deutschland war es am hellsten? Am Kaiserstuhl. Der Kaiserstuhl fiel aus: zu viele Geranien.« Damit landet Bruhns im vollbesetzten Theatersaal des Haus im Park den ersten von vielen Lachern an diesem Abend.
Sie wohnte eine Weile im Elsass. Doch als Deutschland sich wiedervereinigt, hält es sie nicht mehr. »Da hatte ich das Gefühl, am falschen Ort zu sein.« Der richtige Ort heißt Berlin. Dort lebt sie heute noch, mitten in Charlottenburg, im fünften Stock – mit viel Licht. »Ich hab’ nur den Himmel über mir.«
»Nachrichtensprecherin zu sein, war langweilig«
Zwei Themen sind es, die allen bei Wibke Bruhns sofort einfallen. Ja, Frau Bruhns war die erste Nachrichtensprecherin im deutschen Fernsehen. Sie selbst beschreibt das wenig spektakulär: »Ich hatte mich auf diesen seit Urzeiten von Männern besetzten Stuhl gesetzt und vorgelesen, was andere mir aufgeschrieben hatten.« Spannend war das nicht, aber es macht sie sehr bekannt. Bis heute. »Ist es nicht nett, wenn man auf der Straße erkannt wird?« fragt Bormann. »Aber ich bitte Sie!« weist sie ihn zurecht, »ich bin vierzig Jahre im Geschäft, wenn ich es jedes Mal als Wohltat empfinden würde, wenn mich jemand erkennt…« Neugier ist ihre Triebfeder, nicht Eitelkeit.
»Willy Brandt wollte nur reden«
Das zweite Thema im kollektiven Gedächtnis sind die Gerüchte um eine Affäre mit Willy Brandt. »Nein«, sagt sie, sie war nie seine Geliebte. Die Gerüchte entstanden während Brandts erstem Israelbesuch, Bruhns war als Journalistin dabei und er bat sie in seine Hotelsuite. »Er wollte reden. Brandt redete sehr gern. Er hat nicht immer was gesagt.«
»Sie saßen auf der Bettkante…« insinuiert Bormann. »Nein! Da gab es keine Bettkante. Wir saßen in einem Zimmer seiner Suite in diesem unglaublich hässlichen Hotel King David und er redete. Mehr nicht.«
»Männer braucht man auch«
»Wollen wir über Männer reden?« fragt Bormann. Wibke Bruhns antwortet mit einem gedehnten »Jaaaa«, der Tonfall legt das Gegenteil nahe. »In ihrem Buch gibt es niemanden, der sie in den Arm nimmt. Im echten Leben auch nicht?« »Doch« sagt sie, und das klingt jetzt fast ein bisschen empört – nur weil man etwas nicht öffentlich erzählt, heißt es doch nicht, dass es das nicht gibt! »Doch!« Dann Schweigen. Bormann wartet, aber mehr gibt Bruhns zu dem Thema nicht preis.
Er versucht es erneut »Sind Sie eine Männerfrau oder eine Frauenfrau?« »Ich bin eine Menschenfrau. Ich hab’ gern mit Frauen gearbeitet, Stutenbissigkeit ist mir nicht untergekommen.«»Männer werden nicht erwähnt als Beziehungen in Ihrem Buch.« »Männer braucht man auch.« Spricht’s und scheint ein wenig in sich hineinzulächeln. Und dann schweigt sie wieder.
»Für eine Journalistin gehört es sich nicht, von sich selbst zu reden.«
Sie ist da alte Schule. »Für eine Journalistin gehört es sich nicht, von sich selbst zu reden.« »Aber das ist Ihre Biografie!« Bormann ringt die Hände. »Ich finde diese Zurückhaltung angemessen. Aber meine Verlegerin hätte auch gern über mich erfahren. Deswegen stellt das Buch Zeitgeschichte dar und ich schimmere durch. Mein expliziter Auftrag war: anders, als die Artikel, die ich verfasse.«
Dass ihr Mann mit 49 Jahren Selbstmord verübte, dass sie als allein erziehende Mutter mit zwei Töchtern nach Israel ging, die Momente der Überforderung und Verzweiflung, die es in einem solchen Leben gegeben haben muss, sie sind nicht Thema an diesem Abend. Das liegt nicht an Andreas Bormann, der tapfer immer wieder versucht, die weichen, verletzlichen Seiten hinter der eloquenten Journalistin hervorzufragen.
Mitgebracht hat er ihr einen kleinen Kuschel-Elch als Bezug zu Schweden, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. »Das Tier haben sie schon in echt gesehen«. Es sei ein »Schmuse-Gut«, zitiert er ein schönes Wort aus Bruhns’ Buch. Doch statt den Zugang zu weicheren Seiten zu bahnen, führt das Wort zu einer Grammatikdiskussion zwischen den Journalisten Bruhns und Bormann. »Das haben Sie falsch verstanden«, sagt Bruhns, »’gut’ ist hier ein Adjektiv, nicht ein Gut.«
»Man muss nicht immer in kohärenten Sätzen sprechen«
Anfang der 90er Jahre machte Wibke Bruhns eine Psychoanalyse. Anders als sonst bei ihrem Privatleben, spricht sie offen über die »vier Jahre auf der Couch«. »Was war die lebensverändernde Erkenntnis der Therapie?« »Dass man nicht immer kohärente Sätze sprechen muss. Dass man springen darf. Dass es nicht wichtig ist, dass du verstanden wirst, sondern, dass du dich selbst verstehst.« Auf der Bühne entfährt ihr allerdings nicht ein einziger inkohärenter Satz.
»Ich möchte bewusst sterben«
Beim Thema Alter verbittet Bruhns sich Euphemismen »Ich bin 74, das ist nicht ‚älter’, das ist alt. Ich will meine vierte Jahreszeit genießen!«»Wie möchten Sie sterben?« »Bewusst«. Sie habe sich vorbereitet. »Indem ich aufgeräumt habe: Patientenverfügung, Testament, Notizen hinterlassen, wo die Kohle sitzt.«
Die Angst vor dem Tod verneint sie. »Aber Sie hatten Angst, einen Schlaganfall zu erleiden, während Sie an Ihrem Buch »Meines Vaters Land« arbeiteten. Liegt das am Alter?«
»Klar nimmt die Angst vor einem Schlaganfall zu. Ich sehe Schlaganfälle in meinem Freundeskreis. Dazu kommt, dass ich lange unglaublich viel geraucht habe und nicht zu knapp getrunken. Aber da lag es daran, dass ich das Buchprojekt unbedingt beenden wollte.«
»Die Klavierstunden hätte ich nicht hinschmeißen sollen«
Gegen Ende stellt Andreas Bormann wie immer die Frage nach dem »Hätte-Schmerz«, nach dem, was der Gast gern getan hätte oder meint versäumt zu haben in seinem Leben. Wibke Bruhns scheint die Frage kaum zu verstehen. »Kein drittes oder viertes Buch schreiben«, fällt ihr spontan ein. Aber Bormann will keine Verneinung. Sie muss lange nachdenken. Kein Wunder bei jemandem, der schreibt »Das Leben ist zu kurz, als dass der Mensch zweimal dasselbe tun sollte.« Dann sagt sie »Ich hätte vielleicht als Kind die Klavierstunden nicht hinschmeißen sollen. Ich würde gern ein Instrument spielen können.«
»Und was wollen Sie unbedingt noch tun?« Auch hier kommt die Antwort erst nach einigem Nachdenken. »All diese süddeutschen Kirchen ansehen. Nicht wegen der Religion, sondern weil sie so hübsch sind.« Klingt nach einem erfüllten Leben.
Das Publikum applaudiert am Schluss so ausdauernd, als hoffe es auf eine Zugabe.
Franz Müntefering »Lebenslang lebenswert«
13. März 2012
Franz Müntefering trinkt Bier. Was sagt das über ihn aus? Vor allem, dass Moderator Andreas Bormann ihm eines mitgebracht hat, wie er allen seinen Gästen etwas mitzubringen pflegt. Meist führt der Gegenstand – eine Feile war es bei Norbert Blüm, eine amerikanische Flagge bei Hans-Ulrich Klose – direkt hinein in die Biografie des Gastes. Beim heutigen neunten Abend der Reihe »Altersbilder« ist es ein Pils der Marke Veltins. Es stammt wie Franz Müntefering aus dem Sauerland. Franz Müntefering trank es schon als Lehrling in der nahen Kneipe »Zur Eule«.
Der Unterschied zwischen Müntefering und Jesus
Heute, mit 72 Jahren hat er fast Ämter inne gehabt, die die SPD zu bieten hat: Generalsekretär, Bundesvorsitzender, Minister für Arbeit und Soziales, Vizekanzler… Zur Zeit ist er einfacher Bundestagsabgeordneter. Auf der Bühne, im schlichten grauen Anzug mit weißem Hemd, gestreifter Krawatte und schwarzen Slippern wirkt er gut gelaunt und sehr aufgeräumt.
»Hinterbänkler« nennt ihn Moderator Andreas Bormann, um zu sehen, wie es um die Eitelkeit, das Gesehen-werden-wollen des Franz Müntefering bestellt ist. Die Provokation verfängt nicht. »Ich habe lange genug vorne gesessen. Eitelkeit in dem Sinn, dass ich einen Titel brauche, habe ich nicht.« »In welchem Sinne sind Sie denn eitel?« hakt Bormann nach. Müntefering lächelt. »Ich hab gern Recht. In der SPD kursiert ein Witz: Der Unterschied zwischen Jesus und Franz? Jesus wollte nicht immer Recht haben.« Die gut vierhundert Zuschauer im Haus im Park lachen und Müntefering freut sich.
»Wer nicht handelt, lässt geschehen«
Andreas Bormann liest eine Passage aus den autobiografischen Aufzeichnungen von Münteferings Tochter Mirjam »…bis ich in die Schule kam, war ich überzeugt, er könne machen, dass der Dienstag auf einen Donnerstag fiele…« und fragt »Sind Sie ein Macher? Sie haben auch mal gesagt: ‚Wer nicht handelt, lässt geschehen’. Ist das Ihr Lebensmotto?«
Müntefering überlegt. »Ja, das kommt hin. Ich glaube, dass man nicht allmächtig ist, aber auch nicht ohnmächtig. Und man kann nicht nicht handeln.« So sei er auch die Politik angegangen mit 26 Jahren im Ortsverein Sundern: »Ich will fünf Jahre bei Euch mitmachen, mal sehen, ob das was bringt.« Aus den fünf Jahren ist ein ganzes Politikerleben geworden. Und heute? »Ich möchte helfen, dass es den heute Jungen noch gut geht, wenn ich im Himmel bin – oder wo die Sozis sonst hinkommen«, grinst er. Generativität, die Sorge um die, die nach einem kommen, das Bedürfnis, etwas weiterzugeben, Franz Müntefering verspürt es.
»Was man jetzt im Vorschulalter verpasst, rächt sich in zwanzig Jahren«
In seiner politischen Karriere hat sich Franz Müntefering vielen Themen gewidmet. Dem Thema »demografischer Wandel« ist er dabei treu geblieben. »Warum dieses Thema?« fragt Bormann. »Wegen der Langfristigkeit. Politik neigt dazu, in Legislaturperioden zu denken. Da sagt man auch schon mal was, um gewählt zu werden.« Die wichtigen Themen müssten aber langfristiger behandelt werden.
»Was man jetzt im Vorschulalter verpasst, rächt sich in zwanzig Jahren.« Bei rächt rollt er das R leicht, wie die Sauerländer es tun.
»Können Sie heute einem jungen Menschen sagen, ihm wird es mal besser gehen?« »Nein. Ich glaube, die Eltern heute überlegen, wie es den Jungen nicht schlechter gehen kann.«
»Glauben Sie, dass es gerecht zugehen kann zwischen jung und alt?« fragt Bormann. »Ja. Es gibt mehr Unterschiede zwischen den Menschen einer Altersgruppe als zwischen den Generationen. Der eigentliche Konflikt besteht nicht zwischen alt und jung, sondern zwischen reich und arm, zwischen haben und nicht haben.«
»Investitionen in die Köpfe der Kinder sind der Wohlstand von morgen«
»Ist es möglich, das gut hinzubekommen?« will Bormann wissen.
»Ich denke, dass das vernünftig hinzubekommen ist. Die Löhne müssen stimmen, Löhne und Renten hängen zusammen, die Generationen sind aufeinander angewiesen. Was wir heute in die Köpfe und Herzen der Kinder investieren, ist der Wohlstand von morgen.«
»Niemand ist so gut wie 600 Krankenschwestern«
Da ist er bei seinem Thema, Bormann braucht keine Frage mehr zu stellen, zum Thema Lohngerechtigkeit sprudelt es nur so hervor. »Wir haben sittenwidrig hohe und sittenwidrig niedrige Löhne. Ein Bankdirektor dieses Landes hat im vergangenen Jahr 14 Millionen bekommen. Bekommen, nicht verdient«, betont er. »Das ist sechshundert mal so viel wie eine Krankenschwester. Es mag ja sein, dass jemand sehr gut ist, vielleicht sogar zehnmal so gut wie andere, aber es gibt niemanden, der so gut ist wie 600 Krankenschwestern.« Das Publikum applaudiert spontan. Dann kommt der Gleichstellungsbeauftragte Müntefering zum Zug:
»Wenn es bei Erzieherinnen und Pflegekräften so viele Männer gäbe wie Frauen, wären die Löhne höher. Frauen kriegen weniger Geld und haben Berufe, die weniger geschätzt werden. Das muss sich ändern.«
Müntefering ist in dritter Ehe mit der vierzig Jahre jüngeren Michelle Müntefering verheiratet, in der Boulevardpresse wurden die Beziehung und die Heirat ausführlich behandelt. Bormann interessiert sich mehr für das »Fenster, das sich für Sie da auftut. Was erfahren Sie von Menschen, die zwei Generationen jünger sind? Hat es Michelle heute schwerer als Ihre Generation?« »Ja. Die Perspektiven waren besser als wir jung waren. Der Wohlstand war sehr viel bescheidener, aber alles wuchs und wurde aufgebaut.«
»Ich glaube, dass zu viele Menschen ihr Leben verschieben.«
Meist kommt an einem Abend der Reihe Altersbilder irgendwann das Gespräch auf das Thema Tod und Sterben. Auch der heutige Abend macht da keine Ausnahme. Müntefering hat Erfahrung mit dem Tod, wie die meisten Menschen seines Alters. Anders als viele aber hat er Positives zu bieten. Sowohl seine Mutter als auch seine zweite Frau hat er beim Sterben begleitet. 2007 hatte Franz Müntefering alle Ämter abgegeben, um seine damalige, krebskranke Frau zu pflegen. »Ich hatte bei meiner Mutter erfahren wie wertvoll das ist. Das nimmt die Trauer nicht weg, aber es kann ein geglücktes Stück Leben sein, man lernt da in den letzten Wochen noch mal unheimlich viel.« Man müsse die jeweilige Phase immer so gut machen, wie es gehe. »Ich glaube, dass zu viele Menschen ihr Leben verschieben.« Besonders bei Männern sehe er das: »Wir Männer haben eine Macke: wir leben nach dem Hau-den-Lukas-Prinzip, möglichst viel verdienen, dann klingelt es und dann bin ich Rentner. Man muss in der Gesellschaft aktiv bleiben, das können die Frauen besser, die haben das ihr ganzes Leben lang gemacht.«
»Oberbürgermeister wäre ich gern geworden«
»Als junger Politiker wäre ich gern Oberbürgermeister geworden. Aber im Sauerland sind die Städte alle so klein und so schwarz.« So hat es dann doch nur zum Arbeitsminister und Vizekanzler gereicht. Darauf einen letzten Schluck Veltins.
Rückblicke 2011
Norbert Blüm: »Längst nicht außer Dienst«
14.12. 2011
Norbert Blüm ist ein ernsthafter Mensch, der sehr lustig ist. Dass das keinen Widerspruch darstellen muss, erfuhren die mehr als vierhundert Zuschauer im Bergedorfer Haus im Park am Mittwochabend. Bevor aber der ehemalige Minister für Arbeit und Sozialordnung seinen Blick auf Geldwirtschaft, Alter und Arbeit in den Zeiten des Neokapitalismus warf, trug Axel von Koss aus der Hörbücherei des Haus im Park einige Passagen aus Blüms neuem Buch »Ehrliche Arbeit« vor. Ruhig und klar, ohne jede Übertreibung liest er die letzten Worte des Christian Blüm, Vater von Norbert Blüm. Der inzwischen 76-jährige Sohn sitzt derweil sehr lebendig in der ersten Reihe des voll besetzen Theatersaals. Gleich wird er sich aufgeräumt und gut gelaunt auf der Bühne mit Andreas Bormann unterhalten. Bormann wird dabei eher weniger Redeanteile halten.
Vorher aber dies: »Gretel, es war alles sehr schön.« Glücklich, wer so etwas am Lebensende sagen kann. Das findet auch Norbert Blüm, der Sohn des Schlossers, Rennfahrers, Testfahrers und Werksbusfahrers Christian Blüm. Ausgehend vom beruflich nicht sonderlich erfolgreichen, aber erfüllten Leben seines Vaters, der für seine Arbeit geschätzt, anerkannt und gebraucht wurde, entwirft Blüm eine ganze Gesellschaftstheorie. Als Fundament: Ehrliche Arbeit. Als Bedrohung: die aktuelle Geldwirtschaft und die menschliche Gier.
Wie immer hat Moderator Andreas Bormann seinem Gast etwas mitgebracht. Diesmal ist es eine Feile, ein solides Werkzeug, unterarmlang, roter Plastikgriff. Ob er damit noch etwas anfangen könne, will er von Norbert Blüm wissen. »Aber selbstverständlich« lässt sich Blüm nicht lange bitten und erzählt von seinen Lehrjahren als Werkzeugmacher bei der Adam Opel AG. Der Vierzehnjährige musste auf einer Kiste stehen, weil er zu klein war für den Schraubstock. »Das war dann für dreieinhalb Jahre mein Auslauf: fünfzig mal fünfzig Zentimeter. Für mich war das hart, ich war sehr bewegungsfreudig. Heute würde man mich verhaltensauffällig nennen.«
»Politik braucht Hartnäckigkeit«
»Was haben Sie da fürs Leben gelernt?« »Dass man ein Werkstück so lange im Schraubstock halten muss, bis es fertig ist.« Den Bezug zur Politik stellt er sofort selbst her: »Mangelnde Hartnäckigkeit ist das größte Manko der Politik. Ich will, dass Politik über augenblickliche Wünsche hinaus gestaltet.« Und: »Die Lehre, das waren meine Studienjahre. Ohne dieses Training hätte ich die CDU nicht überlebt«, scherzt er. Das Publikum lacht. Das wird es noch oft tun an diesem Abend. Aber dann wird Blüm, der Kabarettist, schon wieder ernst und es zeigt sich Blüm, der studierte Philosoph: »Im Moment der Überwindung der Anstrengung erfahren wir uns selbst«, sagt er und »Eine Gesellschaft, die nicht mehr fähig ist zur Anstrengung, verfault im mehrfachen Sinne.«
»Am Ende bin ich machtlos«
»Heißt das, wer sich nicht anstrengt, kann auch nicht zufrieden sein?« fragt Bormann mit Blick aufs Alter. »Wenn man sich nur noch mit der eigenen Befindlichkeit befasst, das ist gefährlich.« Von Alten, die nur noch um sich kreisen, hält er nichts. »Aber was ist, wenn Sie nicht mehr so agil auf der Sesselkante wippen können?« fragt Bormann. »Darüber mache ich mir keine Gedanken.« Doch Demenz mache ihm Angst. »Mich beunruhigt aber viel mehr, dass mein Frau nicht mehr da sein könnte. Mit meiner Frau habe ich fünfzig Jahre gelebt, wir haben uns auch nicht nur umarmt, da war Zoff im Bau. Aber wenn sie nicht mehr erreichbar wäre, das wäre furchtbar.« Aber die schwindenden Kräfte gelte es zu akzeptieren. »Am Ende bin ich machtlos. In den wenigsten Fällen endet das Leben mit einem Triumph.« Szenenapplaus.
»Das ist nicht nur eine Wirtschaftskrise, das ist eine Kulturkrise«
»Ihr Buch heißt ‚Ehrliche Arbeit’. Haben Sie ehrliche Arbeit gemacht als Werkzeugmacher?« »Ja.« »Und als Minister?« » Ja.« »Was ist dann nicht ehrliche Arbeit?« »Die Geldwirtschaft, die sich anstelle der Arbeit gesetzt hat, ist nicht ehrliche Arbeit.« Börsenzocker, Schnäppchenjäger, Arbeitslosigkeit, Heimatlosigkeit … im Schnelldurchlauf erledigt Blüm die Probleme der Globalisierung »Wie die Zugvögel fliegen wir hinter der Arbeit her.«. Und obwohl das alles gar nicht rosig aussieht, zeigt sich Blüm als Optimist.
»Es geht eine Bewegung rund um die Welt. Es ist klar, dass der Neokapitalismus seine beste Zeit hinter sich hat. Die Frage ist nur, ob er völlig zusammenbrechen muss, oder ob wir vorher die Kurve kriegen.« Die aktuelle Krise sieht er nicht nur als Wirtschaftskrise. »Wir haben eine Kulturkrise.«
»Sind Sie in der richtigen Partei?«
Zwischenzeitlich fragt man sich, ob man die Parteizugehörigkeit dieses Mannes richtig abgespeichert hat. Er sagt Sätze wie »Der Kapitalismus wird daran zugrunde gehen, dass er Arbeiter und Arbeit nicht würdigt« und spricht ganz selbstverständlich von Entfremdung und Neokapitalismus. Nicht eben klassisches CDU-Vokabular.
»Sind Sie nicht in der falschen Partei?« wundert sich auch Moderator Bormann. »Nein«, sagt Blüm, »Sie wissen doch, wofür das C in CDU steht.« Trotzdem hat man beim Zuhören eher den Eindruck, einem strammen Gewerkschafter gegenüber zu sitzen. Furchtlos bezieht er sich auf Marx, kritisiert den häufigen Wechsel von Vorstandsvorsitzenden und ist sicher: »Der Betriebsrat, der seit 30 Jahren bei der Adam Opel AG arbeitet, kennt das Unternehmen viel besser als der Manager, der mal eben für zwei Jahre einfliegt.«
»Die Renten sind sicher«
Natürlich muss Andreas Bormann in einem Gespräch mit Norbert Blüm nach dessen legendärem Ausspruch »Die Renten sind sicher« (1999, im Deutschen Bundestag) fragen. »Ich würde den Satz heute noch sagen, aber es muss Geld in die Kasse kommen. Wenn stattdessen vier Prozent in Riester-Verträge fließen, fehlt das in der Kasse.« Auch habe es Gründe gegeben, dass er dafür so hart angegangen wurde: Die Allianz habe zu der Zeit eine große Anzeigenkampagne in der Bild-Zeitung für die private Rentenversicherung gestartet, für die die Springer-Presse redaktionelle Begleitung versprochen habe. »Wissen Sie, das läuft so: je mehr die staatliche Rente angegriffen wird, um so besser verkaufen sich die privaten Rentenversicherungen.« Bild-Zeitung, Allianz, Verschwörungstheorie? In welcher Partei ist dieser Mann doch gleich?
»Ich bin noch nicht fertig«
Beim Thema Rente, das merkt man bis in die letzte Reihe, ist Blüm immer noch hoch engagiert. Er rutscht auf die vordere Kante seines Sessels, wendet sich dem Publikum frontal zu. Bormann versucht ihn mit Handauflegen zu beruhigen, Blüm schüttelt sie ab: »Ich bin noch nicht fertig.« Aber das sagt er nicht aggressiv, sondern belustigt, man weiß nicht genau: über sich selbst? Über die weitreichendere Bedeutung dieses Satzes? Oder einfach aus Freude am Lebendigsein, daran, etwas mit Leidenschaft zu betreiben?
»Mich interessiert, wie die Welt aussieht, in der meine Enkel leben werden«
»Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Rentner sind?« fragt Bormann. »Das habe ich nicht so genau gemerkt. Ich gehöre ja zu den Privilegierten, die aus einem aktiven Beruf in einen aktiven Ruhestand wechseln können, und ich konnte den Zeitpunkt selbst bestimmen.«
»Was machen Sie als Rentner?« »Ich nehme bis heute an der Rentendiskussion teil. Politik wird ja nicht nur in den Sitzungen gemacht. Mich interessiert schon, wie die Welt aussieht, in der meine Enkel leben werden.« Generativität nennt das die Wissenschaft, dieses Denken und Sorgen über das eigene Leben hinaus. Es ist die Entwicklungsaufgabe, die Menschen im letzten Lebensdrittel zu bewältigen haben. Norbert Blüm scheint sie leicht zu fallen. Für ihn geht alt und jung sehr gut zusammen. »Bei der Erfahrung haben die Alten einen Vorsprung. Die Jungen haben einen an Wissen und Neuigkeiten. Aus beidem zusammen könnte etwas Gutes für die Gesellschaft entstehen.«
Renate Schmidt: Verantwortung im Alter
28. September 2011 im Haus im Park
»Kommen Sie ein bisschen näher«, sagt Moderator Andreas Bormann, während Renate Schmidt und er sich auf der Bühne in den braunen Ledersessel zurechtruckeln fürs Gespräch. »Kommen Sie näher« antwortet Schmidt charmant und bestimmt. Und Bormann tut es.
Man kann sich vorstellen, dass das meistens so funktioniert bei Renate Schmidt. Dass die Menschen tun, was sie möchte.
Es sei kein Platz für jemanden anderen mehr, wenn sie einen Raum betrete, haben ihre Mitarbeiter ihr mal gesagt. Das ist an diesem Abend im Theatersaal des Haus im Park in Bergedorf nicht der Fall. Die mehr als zweihundert Zuschauer, die gekommen sind, um die kämpferische ehemalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Gespräch mit Andreas Bormann zu erleben, finden alle ihr Plätzchen. Und auch im übertragenen Sinn bleibt Raum. Ihre durchsetzungsfähige Art hat sie selbst mal als »Dampfwalzen-Mentalität« bezeichnet, das Wort geistert seither durch die Presse. Das Bild dieser groben, alles platt walzenden Maschine wird aber der attraktiven 68jährigen, die dem Moderator braungebrannt und im dunklen Hosenanzug gegenüber sitzt und aufmerksam zuhört, nicht gerecht. Ihre Antworten sind humorig, sehr klar, selbstironisch und mit Herz und Verstand. Überrollt wird hier niemand.
Man sollte sich auf den Ruhestand vorbereiten
Nach fast vier Jahrzehnten hat Renate Schmidt 2009 der aktiven Politik den Rücken gekehrt. Sie war Abgeordnete im Bundestag, stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Ministerin, Vizepräsidentin des deutschen Bundestags… Ist Ihr der Übergang in den Ruhestand schwer gefallen? »Überhaupt nicht. Ich habe vorher schon geübt und mir morgens beim Aufwachen immer die Frage gestellt: ’Was tätest du heute, wenn du keine politischen Termine hättest?’ Und mir ist immer was eingefallen, manchmal war ich richtig böse, dass ich das nicht machen konnte, weil ich ja meine Termine absolvieren musste.« Sie findet: »Man sollte den Ruhestand nicht mit dem Tag der Pensionierung beginnen lassen, sondern ein gutes Stück vorher.«
Wie sieht ihr persönliches Altersbild aus, will Bormann wissen. »Nicht aufhören, weitermachen in veränderter Form. Ich hoffe, dass ich mindestens 98 werde. Und ich habe gute Chancen, mein Onkel ist 98 geworden.« Denn »zwischen 65 und achtzig haben wir heute eine neue Generation der gewonnenen Jahre, damit will man doch was anfangen, die kann man doch nicht nur mit Golfen und Schwimmen ausfüllen.« Und sie schüttelt den Kopf mit den weißen kinnlangen Haaren, die ganz weich aussehen. Ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, wie absurd sie die Idee vom Ruhestand als Dauerurlaub empfindet. Schließlich sei sie doch noch einsatzfähig: »Ich bin klar im Kopf, habe ein paar Zipperlein, die sind altersgemäß, zwei künstliche Hüftgelenke und manchmal will das Knie nicht so, wie ich, aber das war’s dann auch.« Manch einer würde aus Hüft-OPs und morschem Knien eine Tragödie stricken oder zumindest Leidensprosa. Nicht so Schmidt: Sie findet das eine mehr als akzeptable Bilanz.
Ruhestand à la Renate Schmidt:
100 – 120 Arbeitstage im Jahr
Weitermachen in veränderter Form, genau das tut Renate Schmidt heute. Sie nimmt weiterhin politisch Einfluss, aber auf anderen Wegen als früher. Ihre Definition von Ruhestand umfasst hundert bis hundertzwanzig Arbeitstage im Jahr vor allem in diversen Ehrenämtern. Sie ist im Vorstand des Vereins ‚Gegen Vergessen – Für Demokratie’ von Joachim Gauck, in der Expertenkommission Familie der Bertelsmannstiftung, arbeitet mit der Nürnberger Resolution für die Frauenquote und zieht auch parteiintern noch Stippen. »Ich werde meiner Partei niemals öffentlich Ratschläge erteilen, das mache ich hinter den Kulissen.« Ansonsten »arbeite ich daran, wieder unbekannt zu werden. Das gelingt unterdurchschnittlich.« Fernsehauftritte meide sie. »Nur wenn ich den Eindruck habe, es gibt sonst niemanden, der die Position so gut vertreten kann wie ich, gehe ich hin«. Das sei glücklicherweise selten der Fall. Weniger Dampfwalze als Energiebündel hat man den Eindruck.
Vollzeit mit zwei kleinen Kindern schon 1961
Mit dieser Energie hat sie ein bemerkenswertes Frauenleben geführt: Schwanger mit 17, zweites Kind mit 19, dabei Programmiererin mit Vollzeitstelle (»bei 45 Wochenarbeitsstunden und 14 Tagen Urlaub im Jahr, so war das damals«). Und das in einer Zeit, in der Mütter gefälligst bei ihren kleinen Kindern zu bleiben hatten. Ohne Abitur, das sie schwanger nicht machen durfte, stieg sie zur leitenden Systemanalytiker bei Quelle auf. »Aber es waren auch andere Zeiten« sagt Schmidt. »Wir waren gesucht, ich habe, als ich im fünften Monat schwanger war, noch zwei Stellenangebote bekommen. So was ist heute undenkbar.«
»Das erste Kind mit 17 und deswegen kein Abitur machen können, waren Sie sehr verzweifelt?« fragt Bormann. »Keine Minute!« lacht ihm Schmidt entgegen. »Meine Eltern haben zu mir gehalten, die Eltern meines Freundes und späteren Mannes haben sich gefreut.« Nur dass der Direktor sie der Schule verwiesen habe mit den Worten »Fräulein Pokorny, Sie bringen Schande über diese Schule« findet sie immer noch unerhört. Und dass ihr tschechischer Mädchenname »Demut« bedeutet immer noch lustig. »Und das mir!«
Bitte keine Regeln, wie Frauen mit Kindern leben sollen!
Moral und Rollenbilder von Frauen haben sich seit 1961 auch dank Renate Schmidt stark aufgefächert. Trotzdem wird gerade wieder eine erbitterte Rabenmutter-Debatte geführt. Was sagt sie dazu? »Lasst die Frauen doch bitte selbst entscheiden, ohne dass sie in die eine oder andere Richtung ein schlechtes Gewissen haben müssten.« Das Publikum applaudiert spontan. Es sei »blödsinnig« eine Regel aufstellen zu wollen, »jedes Kind ist anders, es kommt auf die Mutter an und auf die Umstände. Lasst bitteschön nicht irgendwelche Magazine oder andere Leute darüber entscheiden«!
Zur amtierenden Familienministerin möchte sie sich nicht äußern, tut es aber indirekt doch: »Ich glaube, dass zur Politik Lebenserfahrung auch dazu gehört.« Sie hatte im Alter von 37 Jahren 19 Jahre Berufserfahrung und drei Kinder.
Mit ihren Kindern und ihren vier Enkelkinder hat sie ein nahes Verhältnis. Sich im hohen Alter – schließlich sollen es ja mindestens 98 Jahre werden – von ihnen pflegen zu lassen, kommt für sie aber trotzdem nicht in Frage: »Ich möchte nicht bei meinen Kindern leben, wenn ich pflegebedürftig bin.« Das Publikum, größtenteils in Schmidts Alters, applaudiert. »Ich will ihr Leben nicht völlig durcheinander bringen. Und ich möchte auch meinen körperlichen Verfall nicht unbedingt in jedem Detail mit ihnen teilen.« Das sei eine persönliche Entscheidung und müsse jeder selbst wissen. Aber dass man die Alten aus dem Blick schiebt, gefällt ihr nicht: »Es ist eine Krankheit unserer Gesellschaft, alles zu verdrängen, was mit Alter, Tod und Sterben zu tun hat, Altenheime immer ins Grüne zu bauen. Mitten hinein ins Leben gehört das Alter!«
»Was wichtig ist, soll man gleich tun!«
Am Ende stellt Andreas Bormann seine inzwischen schon zur Tradition gewordene Frage nach dem »Hätte-Schmerz«: »Was hätten Sie gern getan? Wo gibt es eine Sehnsucht, eine Melancholie: das wäre ich gern geworden, das hätte ich gern gemacht, ging aber nicht?« Auch hier ist Renate Schmidt beneidenswert klar: »Nix. Nach dem Verlust meines ersten Mannes (der 1984 unerwartet starb, d.Red.) habe ich anderthalb Jahre gebraucht, um wieder in meine Mitte zu kommen. Ich hab heute noch Albträume davon. Aber mir hat dabei sehr geholfen, dass wir miteinander nichts versäumt haben. Was wichtig ist, soll man gleich tun!« Da ist sie wieder, diese Energie.
AltersBilder
Andreas Bormann trifft Prominente, die sich mit Altersthemen beschäftigen – und über ihr eigenes Älterwerden nachdenken. Im Bergedorfer Haus im Park der Körber-Stiftung.
Rückblicke 2011
19. April 2011
Der Tod ist kein Thema, mit dem man große Säle füllt. Dennoch und trotz des hinreißend schönen Wetters waren gut zweihundert Zuhörer ins Haus im Park gekommen, um dem Gespräch zwischen Moderator Andreas Bormann und dem streitbaren Publizisten Hermann Schreiber zu lauschen. Eingestimmt wurden sie von Elisabeth Hartmann aus dem Team der Hörbücherei des Hauses, die Passagen aus Hermanns Buch »Das gute Ende. Wider die Verdrängung des Todes« eindringlich vortrug. »Der Tod stört«, las sie, und »Der Tod ist immer der Tod der anderen.«
Das Thema Tod beschäftigt den heute 82jährigen Schreiber seit dem Sterben seiner Mutter vor zwanzig Jahren. Dass er sie hat allein sterben lassen, dass er nicht bis zum Ende bei ihr geblieben ist, bereut er noch heute. »Ich habe versagt, was den Tod meiner Mutter angeht.« Und so sei sein Buch auch der Versuch, diese als Versagen empfundene Flucht vor dem Tod aufzuarbeiten.
Elisabeth Hartmann
(Foto: Jann Wilken)
»Heute denke ich jeden Tag an den Tod«
»Ich war ein großer Verdränger, das ist mir nach dem Tod meiner Mutter klar geworden.«
Damit steht Schreiber nicht allein. Verdrängung, Wegschauen ist der übliche Umgang mit Tod und Sterben in unserer Gesellschaft. Meist blicken wir erst in diese Richtung, wenn der Tod eines nahen Menschen oder die eigene Hinfälligkeit uns dazu zwingen. »Aber ist das nicht menschlich?« wirft Bormann ein. »Ja, das ist menschlich, aber es hilft nichts, es macht das Ende des Lebens nur schwerer. Ich denke jeden Tag über den Tod nach.« »Hilft das?« fragt Bormann. »Ich weiß es nicht. Aber etwas Besseres weiß ich auch nicht.«
»Ich weiß es nicht« wird er noch mehrmals sagen an diesem Abend. Wer Hermann Schreiber als streitlustigen, teilweise bissigen NDR-Talkshow Moderator in Erinnerung hatte, war überrascht, einen sehr ernsthaften, bedächtigen Menschen auf der Bühne zu sehen. Zwar lieferte er sich auch mit Moderator Andreas Bormann leichtes Führungsgerangel, allerdings nur ums Nachfüllen der Wassergläser.
»Macht die Beschäftigung mit dem Tod nicht depressiv?« will Bormann wissen. »Nein, ich finde, sie hilft sogar, die Depression zu bewältigen. Sie verändert den Blick auf die verbleibende Zeit, sie wird kostbarer.« Sogar sinnstiftend sei sie: »Wenn man weiß, dass das Leben endet, kann man es doch ganz anders wertschätzen.«
Wo es um den Tod geht, ist die Angst nicht weit. »Haben Sie Angst vor dem Tod?« »Eher vorm Sterben. Weil man nicht weiß, wie es abläuft, vielleicht mit Schmerzen, Verlorenheitsgefühlen, Einsamkeit.« Er sagt »man«, nicht »ich« und schafft damit ein bißchen mehr Distanz zwischen dem Sterben und sich. Dasselbe macht er mit witzigen Bonmots: »Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme.«
Hermann Schreiber, Andreas Bormann (Foto: Jann Wilken)
Religion ist für mich keine Lösung
Fragt man Menschen, wie sie sterben möchten, antworten die meisten: »Im Schlaf«. Auch Hermann Schreiber wünscht sich einen solchen unbemerkten Tod. Vor allem aber möchte er gesund sterben, habe Angst ein Pflegefall zu werden, nicht mehr selbst über den Tagesablauf bestimmen zu können. In seiner Patientenverfügung hat er sich Wiederbelebungsmaßnahmen verbeten, weil sie oft mit starken Behinderungen verbunden sind. Das ist seine Angstbewältigungsstrategie: regeln, was man regeln kann. Aber der Tod selbst lässt sich nicht regeln. Wie also umgehen mit diesem großen Unbekannten, der sicher kommt?
»Ist Religion eine Lösung?«
»Für mich nicht«.
»Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?«
»Nein, das kann nicht meine Angstbewältigungsstrategie sein.« Sein Vorbild sei sein Freund Hans-Joachim Friedrichs, den er auf dem Sterbebett dazu befragt habe. Dessen Antwort: »Ich habe ein gutes Leben gehabt, und das geht jetzt zu Ende.«
»Um diese Haltung bemühe ich mich.«
»Meine Bilanz ist positiv«
Dabei sei es natürlich wichtig, wie die Lebensbilanz aussehe. »Ich denke, dass eine positive Bilanz das Sterben leichter macht. Meine Bilanz ist positiv.« Und aufzuräumen empfiehlt er: »Lose Ende helfen sicher nicht beim Sterben. Man sollte klären, was zu klären ist. Ich will ja kein Chaos hinterlassen.«
»Haben Sie alles geregelt?«
»Meine Frau hat das geregelt.«
»Braucht ein Mann eine Frau, um das zu regeln?«
»Ich glaube schon. Ich jedenfalls«.
Alter ist nicht gleich Alter
Zu zeigen, dass das Alter kein einheitlicher Lebensabschnitt ist, sondern in verschiedenen Phasen und vielen Facetten erlebt wird, ist das Ziel der Reihe »Altersbilder« in der Körberstiftung. Auch Hermann Schreiber machte das einmal mehr deutlich. »Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob eine Sieben oder eine Acht vorn beim Alter steht.« Gerade in dem Jahrzehnt zwischen siebzig und achtzig gehe viel verloren »Mit siebzig habe ich noch ungeheuer viel vor gehabt, habe umgesattelt, bin zum Theater und zum Film gegangen. Ich war, verglichen mit heute, voller Energie. Ein Buch zu schreiben traue ich mir heute nicht mehr zu, das ist ja eine Mordsanstrengung, so ein langer Text.« Das klingt nur ein kleines bisschen trauernd, eher als fehle auch die Energie, sich dagegen aufzulehnen.
An anderer Stelle jedoch wirkt Schreiber durchaus energisch:
»Mich stört der Versuch, das Alter zu verharmlosen, es nicht nur schön zu reden, sondern zu maskieren. Ich bin kein Senior und kein älterer Herr, ich bin ein alter Mann.«
»Wann haben Sie das für sich beschlossen?« will Bormann wissen.
»Das habe ich nicht beschlossen. Die Erkenntnis drängte sich auf. Irgendwann nach meinem achtzigsten Geburtstag. Seither ist fast nichts mehr so, wie es war.«
Man hat keinen Anlass, an seinen Worten zu zweifeln, und doch ist man geneigt, Schreiber, der im Nadelstreifenanzug und mit weißem Hemd auf der Bühne sitzt, eher als älteren Herrn zu bezeichnen denn als alten Mann. Auch wenn seine Hände ein wenig zittern.
Der Tod ist kein Thema, mit dem man große Säle füllt. Aber er kommt in jedes Zimmer, irgendwann. Ob’s hilft, wenn man sich intensiv mit ihm beschäftigt, wie an diesem Abend? »Ich weiß es nicht,« sagt Hermann Schreiber. »Aber ich weiß auch nichts Besseres.«
Inge Jens »Unvollständige Erinnerungen«
22. Februar 2011
Am Anfang diese Abends steht ein Filmausschnitt, in dem Inge Jens unter anderem sagt: »Ich habe einen Mann geheiratet, mit dem ich mich unterhalten konnte. Unsere Diskussionen, unsere geistige Partnerschaft ist über fünfzig Jahre hinweg ein bedeutender Bestandteil unserer Ehe gewesen. Das alles gibt es nicht mehr.«
Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Inge Jens, 84, und ihr Mann, der Rhetorikprofessor Walter Jens, 87, sind sechzig Jahre verheiratet. Sie haben ein Leben zwischen Literatur und gesellschaftlicher Einmischung gelebt und gehörten jahrzehntelang zur intellektuellen Elite der Republik. Noch 2003 landeten sie mit der gemeinsam verfassten Biografie Katia Manns »Frau Thomas Mann« einen Bestseller. Seit 2004 leidet Walter Jens an Altersdemenz. Der Filmausschnitt zeigt ihn im Gespräch mit seiner Frau, aber auch später, als das Gespräch schon nicht mehr möglich ist. »Anwesend-abwesend« wird Inge Jens seinen Zustand beschreiben. Und anwesend-abwesend ist Walter Jens auch an diesem Abend im Theatersaal des Haus im Park in Bergedorf. Nicht zugegen, aber präsent in den Erzählungen seiner Frau und den Erinnerungen vieler im Saal.
So klar und gefasst, wie sie den Verlust im Film benennt, erscheint Inge Jens auch auf der Bühne. Groß, schlank, leicht gebräunt, silberner Kurzhaarschnitt, schwarze Hose, grauer Rollkragenpullover, karierter Blazer. Eine »sehr norddeutsche Erscheinung« (Klaus Harpprecht).
Dankbar für 52 Jahre Glück
»Wo ist ihre Trauer?« fragt Moderator Andreas Bormann. »Die Zeiten, in der die Trauer mich gelähmt hat, sind hoffentlich vorbei,« sagt Jens. Sinnvolle Arbeit helfe. »Sie können auch traurig arbeiten.« Und die Rückschau gebe ihr Trost. Dankbarkeit ist ein Wort, das Jens selbst nicht benutzt, dass aber ihre Haltung beschreibt: »Wie gut es uns in 52 Jahren Gemeinsamkeit gegangen ist. Das sind 52 Jahre großes Glück und acht Jahre nicht so großes Glück. Es ist auch nicht unmenschlich. Es ist grauenvoll, es gehören schreckliche Dinge dazu, aber mein Gott, es hat auch unglaublich viele Dinge gegeben in meinem Leben, die wunderschön waren, und da habe ich mich auch nicht gefragt, warum das nun gerade mir passiert.« Und »eine Krankheit zerstört nicht die Vergangenheit. Auch nicht die Gegenwart, wenn man auf eine so lange Gemeinsamkeit zurückblicken kann. Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn er mit vierzig krank geworden wäre.«
»Ich gehöre zu seiner Umgebung wie ein vertrautes Stück Möbel«
Ohne viel Aufhebens, ohne Dramatik, aber ebenso ohne Schönfärberei beschreibt sie das Leben mit ihrem dementen Mann, den sie mit zwei Helfern zu Hause pflegt. »Ich gehöre zu seiner Umgebung wie ein vertrautes Stück Möbel. Als Person nimmt er mich nur in manchen Situationen wahr.« Nicken im Saal, zustimmendes Brummen von denjenigen, die das aus eignerer Erfahrung kennen. »Es gibt Momente, da gehe ich raus, weil ich weinen muss.«
Das erste halbe Jahr, vielleicht das erste Jahr sei das schlimmste. »Wenn Sie noch keine Strategie haben und sich dagegen stemmen. Ich hatte das große Glück, Freunde zum Reden zu haben.«
Wie wenig sich das Leben mit Demenz in unsere normalen Lebens-Kategorien passt, und wie schwer es ist, auf die sich ständig verändernden Anforderungen einzustellen, klingt durch: »Es gibt keine Normen bei Demenz. Versuchen Sie, was möglich ist. Alles ist einfacher, wenn sie einmal kundig eingewiesen werden und ihnen jemand erzählt, was auf sie zukommt.« Gleichzeitig: »Es spielt keine Rolle, was sie gelernt haben, wenn sie gelernt haben, auf die Bedürfnisse des Kranken zu achten. Was rational sinnlos ist, macht auf der Gefühlsebene Sinn.«
Ihre Ausführungen sind offen und klar, man spürt, da hat jemand die riesengroßen Belastungen, die der Verlust des geliebten Gesprächspartners und die Pflege eines Demenzkranken darstellen, selbst durchlebt, aber eben auch durchdacht, versucht, sie einzuordnen, sie zu benennen, um sie handhabbar zu machen. Und am Ende doch erkannt, dass nur das Akzeptieren bleibt.
Es braucht Freude an der Sprache, an der Suche und am Denken, um die richtigen Worte und Begriffe zu finden. Inge Jens hat das ihr Leben lang getan. In ihren behutsamen, treffenden Kommentaren der von ihr herausgegebenen Bücher, in den Diskussionen mit ihrem Mann. Jetzt beschreibt sie das Leben mit einem Demenzkranken behutsam aber genau, schonungslos, aber eben deswegen auch so wahrhaftig und menschlich. Sie verschweigt nicht, dass sie manchmal zu ihm ungerecht war, dass es Phasen gab, in denen sie sich nicht freute, nach Hause zu kommen. Sie spart auch die Tatsache nicht aus, dass Demenz auch körperlichen Verfall bedeutet, Inkontinenz zum Beispiel.
Das Publikum folgt ihren Ausführungen sehr aufmerksam, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Auch Moderator Bormann fragt an diesem Abend weniger als sonst, greift seltener ein, er lässt Inge Jens sprechen. Ein Eingreifen ist auch nicht nötig, sie hat nicht den geringsten Hang zur Selbstdarstellung.
Hin und wieder versucht er, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Aber das ist nicht leicht: »Ich habe mich, soweit ich weiß, noch nie sehr für mich interessiert.« Das ist keine Koketterie. Bormann versucht es trotzdem »Wie haben Sie es geschafft, an der Seite von Walter Jens eigenständig zu werden?« Inge Jens sieht da kein Problem »Er war zu Anfang noch keine öffentliche Persönlichkeit. Ich hatte nie das Gefühl, nicht mithalten zu können. Er war ja auch klein, als wir anfingen.« Auch waren ihre Interessen zwar ähnlich, aber doch abgegrenzt: »Er schrieb sehr gern selbst. Ich hatte nie Ehrgeiz selbst zu schreiben. Und Briefe heraus zu geben ist Fieselarbeit. Mir hat das Spaß gemacht, er mochte diese Arbeit nicht. Erst als sehr erfahrenes Ehepaar haben wir angefangen, gemeinsam zu schreiben. Da war er schon achtzig.«
Katia Mann und Inge Jens
Bormann sieht Ähnlichkeiten mit der von ihr porträtierten Katia Mann. Außer, dass sie beide berühmte Männer hatten, kann Jens das nicht finden. »Walter war ja kein Narzisst wie Thomas Mann und ich hatte auch nur zwei Kinder.« Aber eine Gemeinsamkeit gab es doch: genau wie im Hause Mann war es auch bei Jensens die Frau, die das Auto fuhr »Er war viel zu leicht abzulenken, wenn er am Straßenrand etwas sah, wollte er darüber nachdenken, es betrachten, sich einfach nur auf die Straße zu konzentrieren war nicht seins«.
Sie bezeichnet sich selbst als pragmatisch. »Ich hätte gern Medizin studiert, das ging aber nicht, weil nach dem Krieg die Universitäten den Kriegsheimkehrern vorbehalten waren. Ich habe im Krieg gelernt: wenn Weg A verbaut ist, nehme ich Weg B. Und wenn Weg B auch okay ist, muss man A nicht ewig nachtrauern. Dieser Pragmatismus hat mir geholfen. Hilft mir vielleicht immer noch.«
»Haben Sie eine Patientenverfügung?« fragt Bormann. »Ich habe eine und mein Mann auch. Aber ich bin heute nicht mehr so überzeugt, dass das, was wir damals als unwürdiges Leben betrachtet haben, als wir sie aufsetzten, wirklich unwürdig ist. Ich habe gesehen, dass mein Mann ein Mensch geblieben ist. Es ist kein unwürdiges Leben.«
Die Psychologie weiß, dass Trauer in mehreren Phasen abläuft. Nach dem Nicht-Wahrhaben-Wollen, nach der Wut, nach dem Suchen kommt, wenn es gut läuft, am Ende die Akzeptanz.
Inge Jens hat diese Phase erreicht. Sie hat akzeptiert, dass der Walter Jens, der Ihr Mann war, nicht mehr ist. Sie selbst würde das vielleicht pragmatisch nennen. Aber es ist mehr: wahrhaftig und lebensklug, vielleicht sogar weise.
Rückblicke 2010
»Alt und endlich frei«
Was mag wohl in der schwarzen Stofftasche sein, die Hans-Ulrich Klose mit auf die Bühne bringt? Sie wird erstmal zur Seite gelegt. Moderator Andreas Bormann reicht Klose eine amerikanische Papierflagge. »Was verbinden Sie damit?« Schon sind wir mitten im Leben des Hans-Ulrich Klose, der mit 17 Jahren als Austauschschüler in die USA ging. »Es ist auch meine Heimat« sagt er, und dass die vielen Fragen, die er dort zu Deutschland beantworten musste, ihn gezwungen hätten, auf sein Land mit den Augen der anderen zu blicken. So wurde er zu einem Übersetzer, der den Amerikanern die Deutschen erklärte und umgekehrt. Das macht er heute noch. Gerade hat der 72jährige den Posten des Koordinators für deutsch-amerikanische Beziehungen im Auswärtigen Amt übernommen. Sein Bundestagsmandat behält er trotzdem bei – als Garant für Unabhängigkeit. Von Ruhestand also keine Spur. So verfangen die Fragen zum Thema Alter bei Klose nicht sofort, denn »ich lebe nicht in dem Gefühl, alt zu sein. Ich habe den Eindruck, die anderen werden alt, nicht ich« sagt er.
Ob das nun an seinen beruflichen Aufgaben liegt oder an den vielen Treppen, die er täglich steigt, weil er im fünften Stock wohnt ohne Fahrstuhl? Oder daran, dass er bei gutem Wetter mit dem Fahrrad ins Büro fährt – immerhin 7,5 Kilometer ein Weg? Das kann er nicht sagen. Aber er weiß: »neugierig zu bleiben, ist das Rezept, nicht alt zu werden«.
Dennoch, in seinem Gedicht »Goodbye« von 1997 heißt es »alt und endlich frei«. Stimmt das, macht das Alter frei? »Ich glaube schon. Weil man die Fehler, die man im Leben machen kann, schon alle gemacht hat.« Die Nachfrage, welche er denn gemacht habe, kommt prompt. Klose denkt nach. Das macht er oft. Er überlegt, bevor er antwortet. Diese Bedächtigkeit hat ihm viel Achtung eingetragen. Auf manche Fragen antwortet er gar nicht. Auch das ist eine Antwort, und Moderator Bormann, der das Schweigen aushalten kann bis die Botschaft auch fürs Publikum deutlich ist, respektiert das. Aber Klose hat keine Scheu, über seine Fehler zu sprechen. »Ich bin vielleicht zu früh Bürgermeister geworden.« Mit 37 Jahren war er der jüngste Erste Bürgermeister, den Hamburg je hatte. »Ich war noch nicht gefestigt. Man denkt dann, es gibt nichts wichtigeres als die Politik, und hält sich für genauso wichtig wie das Amt. Beides ist falsch«. Wann wäre er alt genug für dieses Amt gewesen? »Vielleicht wäre ich es besser mit 45 geworden.« Er hängt einen Satz an, der zu Heiterkeit unter den Zuhörern führt: »Richtig erwachsen war ich so mit fünfzig.« Während im Publikum manch einer nachrechnet, wie lange er nach dieser Definition erst erwachsen ist, erklärt Klose, was »erwachsen« für ihn bedeutet: »Sehr gut nachzudenken vor wichtigen Entscheidungen und die getroffene Entscheidung noch zwei-, dreimal in Frage zu stellen.«
Reden die jungen Politiker in der SPD mit den Alten? Nutzen sie seine »Altersweisheit«, indem sie ihn um Rat fragen? »Ja wir sprechen miteinander. Direkt fragen sie nicht, aber sie kommen, um schwierige Themen zu besprechen, beispielsweise Afghanistan.« Weil ihnen die Erfahrung fehle, die nur das Alter, das lange Leben in der Politik bringt. Deswegen das Regieren den Alten zu überlassen, sei aber nicht der richtige Weg. »Demokratie funktioniert nur, wenn alle sich irgendwo beteiligen, egal ob in Parteien oder bei amnesty international oder sonstwo. Es ist gut, dass die Jungen Politik machen.«
Politik ist ein anstrengendes Geschäft. Wie es denn um seinen Kräftehaushalt bestellt sei, will Bormann wissen. Wer transatlantische Beziehungen pflegt, muss häufig in die USA fliegen, das schlaucht schon Vierzigjährige. Aber Klose ist keiner, der jammert. Ja, der Jetlag beim Hinflug sei anstrengend, aber für den Rückflug habe er ein Rezept: »Nach dem Flug anderthalb Stunden schlafen, wieder aufstehen und abends eine Flasche Rotwein«. Dass er mit einer Ärztin verheiratet sei, helfe auch. Seine Frau erwähnt er an diesem Abend mehrmals. Mal erklärt er die Arbeitsteilung im Hause Klose (er kocht), mal lobt er ihre Autofahrkünste, mal bewundert er ihren Aufstieg aus einem bildungsfernen Haushalt bis zum Doktortitel. Und ganz am Ende, als das Geheimnis der Stofftasche gelüftet wird, ist sie auch wieder Thema. Jedes Mal scheint Respekt und Liebe durch.
Aus dem Publikum kommen vor allem politische Fragen. Was Klose denke, wenn er höre, dass jemand mit fünfzig als nicht mehr vermittelbar gilt. »Das schadet dem Land« sagt Klose sehr klar. Ebenso, dass das Rentenalter festgeschrieben sei. Er verweist auf die USA, wo feste Altersgrenzen als verfassungswidrig gelten, weil sie Alte diskriminieren. »Wir müssen diese Regelungen hier ändern.« Sonst verliere Deutschland zu viel Know-How »Emeritierte Professoren gehen in die USA, wo sie Siebenjahresverträge bekommen.« Dennoch will er niemanden verpflichten. Wer nach einem langen Arbeitsleben die Füße hochlegen wolle, solle das tun. »Das ist eine private Entscheidung.« Aber er zitiert eine Bochumer Studie, nach der fünfzig Prozent der Befragten sagen: »die ersten drei Monate in Rente waren toll, danach hätte ich gern wieder gearbeitet« – »Warum hindern wir sie daran?« Das Potential der Alten zu nutzen, das sieht er als Aufgabe der Politik. Und, ja, sie habe den demografischen Wandel verschlafen, sie hätte viel früher und besser reagieren können.
Ein Gespräch im Haus im Park in Bergedorf, Kloses Wahlkreis, kann nicht vollständig sein ohne Fragen nach seiner Partei, der SPD. Warum er noch mal kandidiert habe, ist so eine. »Wegen des Friedens mit meiner Partei« sagt er und der Parteifrieden taucht noch einmal auf an diesem Abend. Klose erklärt ihn sehr persönlich: »Ich möchte mir die SPD als Heimat erhalten, weil die Definition meiner Heimat ansonsten schwierig ist« sagt der 1937 in Breslau geborene. »Ich war nie ein hundertprozentiger Sozialdemokrat, ich bin ein siebzigprozentiger. Weil ich überzeugt bin, dass es keine Partei gibt, der man hundertprozentig zustimmen kann. Da finde ich siebzig Prozent schon ziemlich viel.«
Am Ende greift er dann in den schwarzen Stoffbeutel. Er zieht drei schmale, graue Bände hervor. Der Politiker Hans-Ulrich Klose ist weit bekannt, der Dichter Hans-Ulrich Klose kaum. Dabei schreibt er seit seinem zehnten Lebensjahr. Ein Gedicht von ihm gab den Titel des Abends vor, ein Gedicht beschließt ihn. Klose trägt es selbst vor. Es geht um Zeit, Warten, Liebe, seine Frau.
Stimmt – der Mann ist alt und endlich frei.
Rückblicke 2010
»Rock’n’Roll im Kopf, Walzer in den Beinen«
»’Sie sind zu alt’ – wo haben sie das zuletzt gehört?«, eröffnet Moderator Andreas Bormann ohne Umschweife das Gespräch. Denn dass Max Schautzer an diesem Abend auf einem Ledersessel im Lichthof des BegegnungsCentrum Haus im Park sitzt, hat seinen Ursprung in jenen vier Wörtern. »Sie sind zu alt«, mit dieser Begründung wurde er mit 63 Jahren als Moderator bei der ARD ausgemustert. Im Rahmen der Verjüngungskur des Senders, auf der Jagd nach den angeblich werberelevanten Zuschauern zwischen 14-49 Jahren, sollten die Gesichter auf dem Schirm jünger werden. Er hört den Satz am Handy auf der Autobahn.
Wie er sich gefühlt hat, sagt er nicht. Auch Nachfragen können dem Medienprofi Schautzer seine Seelenlage nicht entlocken. Dennoch kann man sich ausmalen, wie es ihn getroffen haben muss. Plötzlich und unfreiwillig ohne die vertraute Arbeit und all ihre Bezüge zu sein, ist für jeden schlimm. Für jemanden, der es gewohnt ist, in der Öffentlichkeit zu stehen, als Prominenter behandelt zu werden, muss es noch schlimmer sein. Plötzlich ohne Aufträge. Plötzlich ohne Fernsehen nach 39 Jahren bei der ARD, ein Jahr, bevor er sein 40. Jubiläum hätte feiern können. Und er kann nichts tun. Sein Alter kann er nicht ändern. »Zu alt« ist ein Totschlagargument.
Aber wer weiß, vielleicht war es sein Glück? Ein Wendepunkt war es allemal. Denn Schautzer scheint nach dem Abschied von der ARD sein Thema gefunden zu haben. Er schreibt ein Buch »Rock’n’Roll im Kopf, Walzer in den Beinen«. Es handelt auch von seinem Rauswurf, vor allem aber vom Umgang mit Menschen über fünfzig allgemein. »Antworten auf den Jugendwahn« lautet der Untertitel. Moderator Bormann wundert sich »Sie sind ja kein Soziologe«. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Soziologie hat Schautzer zwar nicht studiert, aber ein überraschendes Detail, das die Zuhörer an diesem Abend erfahren, ist, dass er ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat und danach als Wiens jüngster Devisenhändler an der Börse arbeitete. Wirtschaftliche Zusammenhänge überblickt er also. Was die alternde Gesellschaft für die Sozialsysteme bedeutet, kann er einschätzen. »Das System ist verkehrt, nicht die Gesellschaft.« Das lässt ihm das Publikum später nicht durchgehen »Systeme werden von Menschen gemacht«, beharrt ein Zuschauer.
Aber Schautzer hat diese freundliche, konziliante Art. Ohne es direkt zu sagen, vermittelt er »wir wollen doch alle dasselbe«. Gleichzeitig hat er die Gabe, abstrakte Begriffe und Zahlen in menschliche Schicksale zu übersetzen. Er ist immer nah dran an den Menschen, hier merkt man ihm das jahrzehntelange Training an. Stets hat er eine Beispielgeschichte, ein echtes Menschenschicksal zur Hand, das erläutert, was demografischer Wandel für den Einzelnen bedeutet; warum es falsch ist, ältere Arbeitnehmer nach Hause zu schicken, anstatt ihr Potential zum Wohle Aller zu nutzen. »Wir sind Demografie« zitiert er den Titel einer Ausstellung und niemand macht das so freundlich und anschaulich wie Max Schautzer.
Eine quasi-soziologische Typologie der Generation 50 + hat er auch entwickelt. Darin teilt er die Älteren in vier Gruppen ein: Die Aktiven, die teilnehmen, mitreden, mitwirken wollen. Seiner Einschätzung nach sind das die meisten. Dann die Unauffälligen, über die sich naturgemäß nicht viel sagen lässt, sowie die Schwachen, die unsere Hilfe brauchen. Und als vierte Gruppe die Weisen.»„Und welcher Typ sind Sie?» Schautzer lacht, die Frage hat er erwartet. »Von jedem etwas.«
Ist er, der nächsten Monat siebzig wird, alt? »Ich habe mich nie alt gefühlt. Zu meiner Zeit haben 50jährige ausgesehen wie 70jährige, heute sehen 70jährige aus wie fünfzig.« Das gilt auch für ihn. Was tut er, um so auszusehen? »Gesund leben, viel Bewegung, adäquater Sport. Deswegen spiele ich jetzt Golf.«
Zur Überraschung auch von Moderator Bormann entpuppt sich Max Schautzer an diesem Abend als gut informierter, politischer Mensch. Er hat eine Meinung und er sagt sie auch. »Herr Schautzer, Sie erstaunen mich, Sie könnten als sozialpolitischer Sprecher irgendeiner Partei arbeiten«. Das will Schautzer nicht, aber das Kompliment lässt er sich gern gefallen. »Sie sollten keine Vorurteile haben«, rät er und hat die Lacher des Saales auf seiner Seite.
Was waren weitere Wendepunkte in seinem Leben? »Dass ich aus Österreich nach Deutschland ging, um als Plattenjockey zu arbeiten.« Wie bitte? Max Schautzer war DJ? »So hieß das damals noch nicht als ich in Deutschlands erster Diskothek, dem Aachener Scotch-Club, Platten aufgelegt habe. Damals habe ich gelernt, vor Publikum zu arbeiten und mit Musik zu manipulieren.«
Weil sein aktuelles Projekt ein Fernsehsender für die Generation 50+ ist, taucht die Frage auf, was Fernsehen kann. Nur verdummen oder auch Impulse geben? Schautzer glaubt an Impulse, sieht sie im gegenwärtigen Programm aber nicht. Kann Fernsehen aktivieren, will eine Zuschauerin wissen. Kann Fernsehen helfen, wenn man ohne Familie ist und auch die Freunde allmählich wegsterben? »Ja, ein anderes Fernsehen!«. Gleichzeitig appelliert er an die Eigenverantwortung: »Man kann nicht den Medien die Schuld geben, jeder ist für seine Freizeit- und Lebensgestaltung selbst verantwortlich.« Die Eigenverantwortung sieht er auch, wenn das Schicksal es mal nicht so gut mit einem meint: »Wendepunkte im Leben werden meist vom Schicksal ausgelöst, aber es liegt an mir, wie ich damit umgehe. Ob ich resigniere oder etwas tue.«
Was wird der Sender des ganz und gar nicht resignierten Herrn Schautzer zeigen? Bonanza? Raumschiff Orion? »Auch. Sich erinnern dürfen ist wichtig.« Ein zustimmendes Murmeln geht durchs Publikum. Außerdem wird er Gesundheits-, Finanz- und Reisemagazine senden, mit Inhalten für Ältere. »Ein Reisemagazin für Menschen über fünfzig muss anderes bringen als eines für 25jährige.« Aber er plant auch Sendungen, in denen Ältere und Jüngere sich gegenseitig etwas erklären, im Stile des Bestsellers »Opa, ich erklär dir das Internet«. Die Generationen zusammenzubringen ist ihm ein Anliegen. Das wird an diesem Abend mehrmals deutlich, wenn er zum Beispiel von dem jungen Firmenchef erzählt, der nur aus Not einen älteren Diplomingenieur einstellte und inzwischen eine altersgemischte Belegschaft zur Firmenpolitik erhoben hat, weil alle Mitarbeiter und der Umsatz davon profitierten. Oder wenn er die Kritik der Jungen am Rentensystem ebenso versteht wie die Sorge der Alten um ihr Auskommen.
Den Begriff »Senioren-Sender« lehnt er übrigens ab. »50jährige fühlen sich nicht als Senioren.« Ihm glaubt man das aufs Wort. Und wird er selbst wieder auf dem Schirm zu sehen sein? »Wenn es passt.«
Süßer Vogel Jugend
Hellmuth Karasek hat das Treppchen zur Bühne noch nicht ganz erklommen, da macht er schon seinen ersten Witz. Während er vorsichtig und etwas steif Stufe um Stufe nimmt, erklärt er »Ich bin vor zwei Tagen gestürzt, deswegen gehe ich so alt.« Das Publikum im ausverkauften großen Saal des Hauses im Park lacht. Das wird es an diesem Abend noch sehr oft tun.
Der Journalist Karasek, 76, war Kritiker bei der »Zeit«, Kulturchef des »Spiegel« und Mitglied des »Literarischen Quartett« im ZDF. Heute arbeitet er vor allem als Autor. Passagen aus seinem Buch übers Alter »Süßer Vogel Jugend oder Der Abend wirft längere Schatten« trägt der ehemalige Filmemacher Axel von Koss, der im Bergedorfer BegegnungsCentrum Hörbücher einspricht, vor. Seine lebendige Lesung bereitet der guten Laune den Boden. Von Koss liest Karaseks genaue, schonungs- aber nicht mitgefühllose Selbst- und Fremdbeobachtungen. Vom eigenen »scheinbar beschwichtigenden, aber in Wirklichkeit hypochondrisch aufwiegelnden« Verhalten ist da die Rede und von Altersschwächen wie »Weitschweifigkeit, wachsender Eitelkeit oder Nabelschau. Die Nabelschau fällt schrecklich aus, weil ein alter Nabel nicht mehr zum Ausstellen geeignet ist.«
»Der Klettverschluss ist eine Kapitulation«
So richtet sich der Blick des Moderators dann auch nicht auf die Körpermitte, sondern auf die Füße. Ein Paar Schnürsenkel hat Andreas Bormann für Karasek mitgebracht. Der lässt sich nicht lange bitten und erläutert, warum Schnürsenkel für ihn so wichtig sind. »Schuhe mit Klettverschluss werde ich nie tragen. Der Klettverschluss ist eine Kapitulation.«
Zu der ist er nicht bereit, auch wenn ein offener Schnürsenkel im Bäckerladen mit über siebzig eine Herausforderung darstellt. »Ich schaue mich um: gibt es irgendwo eine Stoßstange, eine Treppe, auf die man den Fuß stellen könnte? Eine Bank?« Alles, nur nicht mit hochrotem Kopf am Boden knien.
Karasek beschreibt die Lächerlichkeiten des Alters, das ihn, wie alle anderen, mit vielen unwürdigen Ansinnen belästigt, selbstironisch und fein. Ohne hilfreiche Stoßstange, aber erhobenen Hauptes geht er schließlich von dannen, mit ausholendem Schritt darauf achtend, nicht auf den offenen Senkel zu treten. Zur Begeisterung der Zuschauer macht Karasek das auf der Bühne vor. Dabei gibt er dem Publikum viel zu lachen, aber es ist ein Lachen mit ihm, nicht über ihn. Es sind diese kleinen Alltagsszenen, in denen die Zuhörer sich wieder erkennen. Dass er am Ende scheitern muss, weiß Karasek. Das macht den Kampf um so tapferer.
An diesem Abend trägt er hellbraune Budapester – natürlich mit Schnürsenkeln. Dazu Jeans (»die hatte ich schon an«), ein weißes Smokinghemd mit offenem, kokett aufgestellten Kragen und ein graues Jackett. Die Schuhe sind, das ergibt Bormanns Inspektion, korrekt gebunden, aber ein Senkel franst aus.
»Die Technik lässt mich inzwischen links liegen«
»Sind Sie altmodisch?«, will Bormann wissen und spielt auf Karaseks Lexikonsammlung an, die dieser der Internetrecherche vorzieht. Wie er zu moderner Technik steht, sagt Karasek nicht direkt, sondern antwortet wie meistens mit einer Anekdote. Hotels bewerte er inzwischen »nach der Länge der Schuhlöffel, und ob man die Lichtschalter bedienen kann«. Als er in einem Hotel die Leselampe ausschalten wollte, sei im Badezimmer Musik angegangen und die Rollläden hoch- und runter gefahren. »Bis ich die Leselampe bedienen konnte, hätte ich einen Airbus über den Atlantik fliegen können.« Aber er schiebt das nicht allein aufs Alter. »Auch bei jungen Leuten sehe ich Zusammenbrüche. Wenn man im System verendet, gibt es kaum Trost.« Dann sagt er diesen wunderbaren Satz »Die Technik lässt mich inzwischen links liegen.« Und ergänzt: »Meine Frau hat mir einen I-Pad geschenkt und dazu einen schrecklichen Satz gesagt: Der ist idiotensicher.« Der Saal lacht.
Das Lachen ist fast immer zustimmend, nur einmal, als es um Stuttgart 21 geht, regt sich Widerspruch. Karaseks Einschätzung, viele wendeten sich aus Eigennutz gegen das Projekt (»Baulärm bitte woanders«) provoziert einige laute »Nein« im Publikum. Aber auch Applaus.
Reden wir über Frauen
»Reden wir über Frauen«, sagt Bormann und als erstes fällt Karasek dazu ein, dass Casanova seine Liebesabenteuer mit 43 einstellte. »Finden Sie das zu früh?« Karasek schweigt ein wenig, was selten vorkommt an diesem Abend.
»Ich bin jetzt 73, in drei Jahren stelle ich das ein.« Das Publikum lacht, obwohl der Witz hinter dem Witz – Karasek wird im Januar 77 – den meisten entgehen muss.
»Kommen Frauen inzwischen auf sie zu, aber sehen sie nicht an?« Aus dem Saal tönt ein mitfühlendes »ooh«. »Das kenne ich eher aus Erzählungen von Freundinnen, die berichten, dass Männer durch sie hindurch sehen. Mir passiert das nicht. Aber sie gucken wie ‚den kenne ich aus dem Fernsehen’. Doch die Blicke sind anders als früher. Die Blicke von früher hätte ich noch gern.«
Würde, das Wort fällt an diesem Abend kaum, aber dennoch geht es fast einzig und allein darum. Karaseks Anekdoten und Witze sind vor allem ein Versuch, dem Alter die Würde zurückzugeben. Dabei ist er scharf in der Beobachtung, aber milde im Urteil, sich selbst und anderen gegenüber. Altersmilde wirkt das nicht, eher wie ein Persönlichkeitszug. Man merkt, er hat Verständnis fürs Menschliche und Allzumenschliche.
»Wir lachen über das, was eigentlich schmerzt«
»Wir lachen hier sehr viel. Wie wichtig ist Humor?« fragt Andreas Bormann. »Er hilft, das Leben zu bestehen. Wir lachen über das, was eigentlich schmerzt«, sagt er. »Machen Sie auch Witze über das Alter?« »Oh, Ja!« sagt er und schließt einen weiteren Witz an.
Mit Fragen über den Tod seiner Mutter versucht Bormann, das Gespräch weg von den Witzen in ernstere Bahnen zu lenken, allein – Karasek ist unlenkbar und das Publikum für weitere Witze dankbar.
»Ihre Mutter ist gestorben, da waren sie 71. Haben Sie sich da Gedanken gemacht: so möchte ich auch sterben?« »Nein. Nein. Nein. Nein.« Viermal wiederholt Karasek die Negation, es scheint ihm sehr ernst. »Ich habe mir eine Feigheit angewöhnt im Leben. Bestimmte Gedanken mache ich mir erst, wenn die Zeit dazu gekommen ist.« Dass das am Ende gut gehen wird, scheint er nicht zu glauben, denn er vergleicht sich mit jemandem, der vom Hochhaus fällt und der, als er am 34. Stock vorbeifliegt, denkt, »bis hierher ist doch alles gut gegangen.«
»Haben Ihre Kinder eine Patientenverfügung?«, fragt Bormann. »Ich habe eine mit meiner Frau gemacht. Aber eine haben und sie benutzen, sind doch zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich habe bisher keine Ahnung.«
Zum Ende möchte der Moderator noch wissen »haben Sie einen ‚Hätte-Schmerz’? Etwas, was Sie gern getan hätten, wofür es zu spät ist?« »Ja! Ich wäre gern noch Virtuose geworden. So gut Klavier spielen wie Rubinstein würde ich gern können. Ich kann ein bisschen singen, das durfte ich bei Ina Müller zeigen.«
Bormann: »Hab’ ich im Internet gesehen, das war eine Katastrophe.«
Karasek: »Ja, meine Frau sagt das auch. Sie und meine Frau verstehen nichts von Gesang.« Und während des Publikum noch lacht, steigt Karsasek langsam und vorsichtig die Treppe von der Bühne wieder herunter.